Gedanken zu Václav Havel: „Wenn der Hauptpfeiler des Systems das Leben in der Lüge ist, dann ist es nicht überraschend, dass die grundlegende Bedrohung des Systems das Leben in der Wahrheit ist.“
Aus: Václav Havel, „Vom Versuch, in der Wahrheit zu leben.“
Wie könnte es aussehen, nicht zuzulassen, dass eine totalitäre Politik Einfluss auf mein Leben nimmt?
Sich nicht hineinziehen lassen in das Narrativ kann unterschiedlichen Motivationen entspringen.
Es kann auf Desinteresse beruhen, auf Widerstand oder auf Interesse am eigenen Leben.
Habe ich kein Interesse, fällt es mir leicht mich nicht hinein ziehen zu lassen. Ein Beispiel auf Covid bezogen, wäre der Einsiedler in der Höhle im Himalaya, der nur an seiner spirituellen Entwicklung interessiert ist. Er wird weder von den Maßnahmen tangiert, noch fühlt er sich vom Virus bedroht.
Widerstand speist sich aus dem Geschehen selbst. Widerstand vertritt eine Meinung, die auf der Meinung dessen beruht, dem ich Widerstand entgegen setzen möchte. Quasi eine Anti-Meinung. Sie ist häufig eine erste Reaktion auf eine Meinung, die nicht meiner inneren Wahrheit entspricht. Bleibe ich im Widerstand hängen, wird keine Entwicklung stattfinden. Entwicklung braucht ein Ziel, eine Vision, einen Ort, der sich nach mir sehnt, dem meine Sehnsucht gilt. Sie ist ein Prozess, in dem ich Schritte machen kann. Widerstand ist wie Tauziehen. Er hält mich an dem Platz fest, an dem das existiert, was mir nicht entspricht.
Leitet mich mein Leben, meine Visionen, meine Vorstellungen, ist es wahrscheinlich, dass ich mich schon lange damit beschäftigt habe, wie und weshalb ich mein Leben auf genau diese Weise lebe. Ich habe mich mit der Welt im Außen, aber auch mit meiner inneren Welt auseinandergesetzt. Wahrscheinlich habe ich mir mein Inneres angeeignet, weiß, dass meine Gefühle mein Ausdruck sind, ebenso meine Gedanken. Mir ist wohl auch klar, dass dies der Bereich ist, in dem ich Verantwortung übernehmen kann. Hier habe ich Einfluss. Hier ist der Ort wahrhafter Freiheit. Ich entscheide welche Ansichten und Meinungen ich mir zu eigen mache. Wem ich erlaube diesen heiligen.inneren.bewussten.Ort zu erreichen. Das Außen ist das Außen und Innen ist Innen. Dazwischen existiert eine Grenze, ein Filter, eine Tür. An dieser Grenze trennen wir nach bewusst und unbewusst. Einzig und allein ich entscheide, was in mein Bewusstsein fließt. Welchen Ideen ich Energie gebe. Pro Sekunde setzt sich unser Gehirn mit etwa 11 Millionen Sinneseindrücken auseinander. Davon nehmen wir circa 40 bewusst wahr. Das Leben ist so enorm und unüberschaubar vielfältig, das Außen zu filtern, ein unbewusster und angeborener Prozess, der es uns erlaubt unseren individuellen Standpunkt einzunehmen. Und es ist der Punkt, an dem persönliche Freiheit beginnt. Meine Entscheidung, womit ich mich beschäftige. Aber auch der Punkt, ab dem ich meine Meinung vom Kollektiv bestimmen lassen kann. Es liegt an mir.
In Krisenzeiten ist es für uns alle schwieriger die einprasselnden Eindrücke zu verarbeiten. Die Krise definiert sich unter anderem dadurch, dass ich nicht weiß, was auf mich zukommt. Ich habe keine Erfahrung damit, kenne die Parameter nicht. Also möchte ich Informationen sammeln, mehr erfahren, auch, um mich oder die, die ich liebe, schützen zu können, so das nötig wird. Dazu muss ich mich, über meine bisherigen Grenzen hinaus, weiten und eine größere Informationsmenge bewusst aufnehmen.
Besteht die Krise länger, kann ich die Offenheit nur begrenzt beibehalten. Diese Öffnung ins Außen fordert meine bisherigen Muster und Strategien heraus. Entweder kann ich die neuen Informationen darin unterbringen oder ich muss nach einem Weg suchen, mich mit ihnen vertraut zu machen.
Während der Krise kann es sein – oder ist es wahrscheinlich -, dass ich mehrfach die Stufen von Desinteresse und Widerstand durchlaufe, bis ich zu dem Punkt zurückkehre, mich wieder auf das zu berufen, was ich in diesem Leben wirklich möchte. Dies wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit dem übereinstimmen, was mich vor der Krise motiviert hat. Denn inzwischen habe ich mich gedehnt und geweitet.
Was also ist meine Wahrheit? Wahrheit muss per se immer prozesshaft sein. Nimmt sie sich aus dem Prozess des Erkennens, erstarrt sie zu einem Muster, einer Strategie. Wahrheit ist die lebendige Antwort auf die Einladungen und Entwicklungen im Außen. Somit ist Wahrheit Lebendigkeit. Beide sind nicht voneinander zu trennen.
Der Lüge des Systems meine Wahrheit entgegenzusetzen, meint dann, im lebendigen Moment des Jetzt fließend, die Antwort zu erspüren und mich und die Welt damit zu überraschen.
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