Wir alle werden mit einem unvollkommenen Gehirn geboren. Es ist nur wenig ausdifferenziert und bietet uns daher die Fülle aller Möglichkeiten. Es ist egal, ob wir in Amerika, in China, im Dschungel oder in 3000 Meter Höhe zur Welt kommen. Unser Gehirn bietet alle Voraussetzungen, um uns der jeweiligen Umgebung anzupassen. Und Umgebung bedeutet für ein Neugeborenes erst einmal die Menschen, die es versorgen. Ob seine Mutter es eng wickelt, auf dem Rücken oder an der Brust trägt, das Baby wird sich anpassen. Seine körperliche und mentale Entwicklung wird positiv verlaufen, solange einige wenige Grundvoraussetzungen gegeben sind. Da Menschenkinder den Stand ihrer Entwicklung betreffend mindestens 9 Monate zu früh zur Welt kommen, brauchen sie nach der Geburt weitere 9 Monate, die der ungestörten Entwicklung im Mutterleib möglichst nahe kommen. Dies ist der Fall, wenn die Mutter sie rund um die Uhr trägt und das Kind freien Zugang zur Brust hat. Wie wir wissen, ist dies in der westlichen Welt kaum noch der Fall. Das Neugeborene erhält also in unserer Kultur, in der prägendsten Zeit seiner Entwicklung, nicht was es braucht, um ein stabiles Lenbensfundament auszubilden. Im schlimmsten Fall erlebt es, dass es schon sehr früh von ihm fremden Menschen betreut wird. Je nachdem wie die Betreuung organisiert ist und wie empathisch die betreuenden Personen sind, kann das Kind dies alles integrieren oder erleidet ein erstes Verlusttrauma.
Im menschlichen Gehirn sind bei der Geburt verschiedene Systeme angelegt, die je nach Alter unterschiedlich ausgeprägt sind. Im ersten Lebensjahr dominiert das Bindungssystem, da Säuglinge ohne die Unterstützung anderer Menschen sterben würden. Sie sind auf Nahrung, Wärme, Zuwendung und Liebe angewiesen. Je unabhängiger das Kind wird, umso stärker meldet sich das Autonomiesystem. An diesem Punkt tauchen Konflikte zwischen Erwachsenen und Kindern auf. Je nach der Persönlichkeit der involvierten Menschen, sind diese Konflikte ausgeprägt oder fallen kaum auf. Ausgetragen werden sie immer. Wir Erwachsenen haben Ideen im Kopf, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein zu wollen, wir haben es oft eilig und sind davon überzeugt, dass unsere Sicht der Welt die einzig mögliche sei. Dem wollen wir unsere Kinder unterordnen. Sie sollen sich anpassen und einfügen. Schließlich müssen Erwachsene arbeiten und Geld verdienen. Sie halten die Welt am Laufen und überblicken alles. Will sich das Kind nicht anpassen, entziehen wir ihm unsere Liebe. Sprich es muss sich entscheiden zwischen Autonomie und Bindung. Das kleine Kind kann sich letztlich nur für die Bindung entscheiden und opfert damit seine Autonomie. Alle seine Instinkte und Gefühle, die ihm sagen, was richtig und falsch ist, wird es aufgeben und sich den Erwachsenen unterordnen. Es wird aufhören zu weinen, wenn es in der Krippe abgegeben wird, es wird verzweifelt versuchen weitere Bindungspersonen zu finden, es wird sich immer wieder binden und dabei sich selbst verlieren.
Der in seinem Inneren entstehende Druck wird vielleicht irgendwann als ADHS diagnostiziert werden und es wird Medikamente erhalten, um auch das letzte Gefühl von „ich bin“ zu unterdrücken. Hat es Eltern, die ähnliche Kreise in ihrer Kindheit durchliefen, ist eine Wiederholung des ganzen wahrscheinlicher.
Erwachsene, die als Kinder ihr Autonomiebestreben aufgeben mussten, um eine wenigstens rudimentäre emotionale Versorgung zu erhalten, glauben als Erwachsene, sie hätten die Freiheit der Wahl, wenn sie drei Alternativen des Gleichen vor sich haben. Sie erkennen nicht, dass dies keine wirkliche Wahl ist. Falls sie es doch sehen, schauen sie auf die Menschen um sich und ordnen ihr Gefühl dem unter, was die anderen tun. Denn genau darauf wurden sie zu Hause, in der Kita, in Schule und Universität erzogen.
Demokratie braucht jedoch Menschen, die hinterfragen. Menschen, die nur gelernt haben eine der schillernden Möglichkeiten, die ihnen angeboten werden, zu wählen, ohne sich zu fragen, ob die Welt vielleicht ganz anders funktionieren könnte, sind nicht in der Lage ein demokratisches System zu gestalten. Demokratie lebt von Autonomie.
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