Wir alle sind Natur

„Eine Pflanze, so dachte ich auf der Waldwiese, ist nicht allein das aktuelle Resultat aller Einflüsse, die auf sie eingewirkt haben – in ihr sind all diese Erfahrungen noch Gegenwart. Wenn neue Borke um eine Verletzung wächst, die der achtlos eingepflockte Stacheldraht geschlagen hat, dann zeigt sich am Ende vor allem eines: wie die Pflanze mit dieser Wunde weiterleben konnte. Lebewesen bilden Narben um ihre Verletzungen und konservieren damit in der Heilung den Schmerz des Zusammenstoßes. Sie umschließen die Vergangenheit wie einen Kern. Ihre Körper sind diese Vergangenheit. In ihnen gewinnt etwas Nichtstoffliches eine Form.

Wenn sich die Physik des Lebens nur in den Begriffen des Seelischen umfassend genug ausdrücken lässt, dann müssen sich dessen Spuren auch als physikalische Realität zeigen. Wenn die Erscheinungsform der Wesen die Subjektivität ist und erst deren Bedürfnisse die Stoffströme durch eine Zelle regeln, dann muss der Stoff eines Wesens folgerichtig diese Subjektivität zum Ausdruck bringen und somit geradezu Seele darstellen. Sollte sich eine solche Idee bewahrheiten, wäre die Natur keine stumme Kulisse mehr, sondern durchflutet von Ausdruckskraft. Dann wäre das Empfinden der Wesen in deren körperlicher Gegenwart zugänglich.

Das heißt freilich nicht, dass andere Organismen unsere Gefühle teilen und ausdrücken. Das zu glauben wäre naiv. Mit “Seele“ meine ich weder die christliche Vorstellung, Ebenbild des Schöpfers zu sein, noch das Unbewusste der Psychologen im Gefolge von Sigmund Freud. “Seele“ heißt, dass etwas den Organismus zusammen hält, was nicht allein den Anziehungs- und Abstoßungskräften der Atome entspringt, sondern der Sorge um seine Fortexistenz. “Seele“heißt Betroffenheit – und genau deren Empfindung ist uns bekannt. “Seele“ heißt Innerlichkeit, und es ist diese, die wir mit den anderen Wesen gemeinsam haben, in wie geringem Maße auch immer. Gewiss ist fremde Innerlichkeit nicht von den menschlichen Begriffen und Gefühlen wie Erfolg und Verlust, Trauer und Triumpf durchdrungen. Was wir aber mit anderen Wesen teilen, ist das Bangen um die Existenz, das den Kern jedes “autonomen Akteurs“ ausmacht. Worin wir ihnen gleichen, ist die verletzliche Außenseite, in der sich diese Innerlichkeit ausdrückt.“

Andreas Weber, “Alles fühlt“

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