Südamerika

Die Spur aufnehmen

Du landest in Paraguay und hast das Gefühl eines Kulturschocks. Bleibst du länger und offen für die Verbindungen zwischen dir und deiner Umwelt, erkennst du, es liegt an der Spiegelung.
Paraguay spiegelt dir alles, was du bereit bist in dir zu sehen, damit du es heilen kannst. Deine nicht erfüllten Träume, die am Wegrand abgelegten Ideen, alles was du nicht mehr haben wolltest und wegwarfst. Das Land ist so unvollkommen, wie du dich in den Tiefen deines Seins fühlst.
Und es spiegelt dir auch alles, das du nicht sehen möchtest. Die Ängste und Schmerzen und die Verzweiflung von früher. Du dachtest das sei weg. Begraben und vergessen, irgendwo in der Vergangenheit zurückgeblieben. Jetzt erkennst du, es war immer bei dir und es ist immer noch da. Dann nimmt das Land dir deine Kontrolle. Heimlich und leise bekommen die Wände, die du um deine Unzulänglichkeiten gezogen hast, Risse. Sand und Mörtel bröseln, es entstehen Lücken und erste Steine wackeln. Du gibst alles, um das aufrechtzuerhalten, was dir in deiner Heimat noch so wichtig erschien. Du kaufst ein Grundstück, baust ein großes Haus, fährst nach Ciudad del Este, um all die Dinge zu bekommen, die dich von den Ängsten in dir ablenken könnten. Vielleicht gehst du nach Encarnacion und verlierst dich im Sonnenuntergang und deinen Strandträumen. Oder du suchst dir tolle Restaurants, in der Hoffnung mit gutem Essen oder viel Alkohol all das begraben zu können, was sich seinen Weg ins Licht sucht. Wahrscheinlich tust du all das.
Aber Paraguay bleibt was es ist. Unvollkommen, halbfertig und vergessen, belebt und wieder losgelassen. Ruinen und Müll zeugen von verlorenen Träumen. Und die verlorenen Träume in dir hören den Ruf und ihr Echo singt in dir.
Es zu hören wäre deine Chance jetzt noch, so viele Jahre nach deiner Kindheit, all die liegengelassenen, die ungewollten, die beängstigenden Gefühle wieder zu dir zu nehmen. Sie als Teil von dir anzuerkennen und das kleine Kind von damals mit Liebe und Mitgefühl zu betrachten.
Hör hin. Hör das Summen und Zirpen, das Murmeln. Die klaren und die schiefen Töne, die dir von all den verpassten Gelegenheiten, den ekstatisch begonnen Aufbrüchen, den als lieblos erlebten Enttäuschungen erzählen. Von den großen Ideen, dem Traum, an den du glaubtest – von all den Hoffnungen, die sich nicht erfüllten. Wenn du es jetzt schaffst dich ihnen zuzuwenden, sie anzuschauen und sie aufzulesen, dann bist du auf dem Weg von La Loba, der Wolfsfrau, die alle Knochen des Wolfs einsammelt und sie besingt, bis Muskeln und Sehnen und Haut auf ihnen erscheinen, bis die Wölfin aufspringt und losrennt, um sich weiter vorne in die Frau zu verwandeln, die sie tief im Innern immer war. Dann hast du die Spur zu deiner Seele wieder aufgenommen.

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