Mythen und Märchen

Waldfrau

„Früher lebte ich im Wald. Alleine und abseits der Menschen. Der Wald, die Tiere, die Pflanzen waren Freunde. Vertraute. Verbundene. Sie und ich waren die Erde.
Wir spielten miteinander, wir rannten und schwammen. Ja, es gab Schmerz und Leid, doch das gehörte zum Leben.
Irgendwann kamen sie. Ich wusste schon lange, dass der Zeitpunkt kommen würde. Immer wieder waren dunkle Energien sichtbar. Gedanken und Gefühle, die von ihnen zu mir floßen. So war es. Einfach ein weiteres ES IST. Ich wusste, dass ich es ertragen würde, wie der Baum den Blitz erträgt. Ich meinte, ich sei stärker.

Es war furchtbar. Sie holten mich, ihre Gesichter waren Fratzen, aus denen die Wut quoll. Sie trugen den Tod in den Augen. Ihre Körper verkrampft, verhärtet. Ich spürte die Angst dahinter. Die Sehnsucht nach Verbundenheit, nach der Einheit. Sie war ihnen genommen worden und lebte doch so stark und tief in ihnen. Ich konnte ihr Pulsieren spüren. Ihre Wut war fehlgeleitete Energie aus der Tiefe der Quelle. Letztlich ist alles Liebe. Sie waren nie geliebt worden. Also liebten sie sich selbst nicht. und konnten niemanden lieben. Es waren so gequälte Wesen. Und weil sie so gequält waren, mussten sie andere quälen. Die unbewusste Wut auf ihre Peiniger floß zu allen, die anscheinend das hatten, was sie so schmerzlich vermissten: Liebe, Verbindung, Mitgefühl.

Ich ging mit ihnen. Jeder Schritt schmerzte in dem Wissen, was gleich geschehen würde. Sie würden sich vor Mutter Erde versündigen. Sie würden mich töten und damit das grundlegendste Gesetz verletzen. Wir dürfen einander nicht töten. Wir sind hier, um als Hirten aufeinander und auf alle Wesen der Erde zu achten. Wir sind Mutter Erdes Ausdruck des Mitgefühls. Wir sind ihr Sinn für Selbstreflexion. Wir sind hier, um Sonnenuntergänge zu bestaunen, uns am Duft von Blüten zu erfreuen, im Meer zu schwimmen und barfuß im Sand zu laufen. Wir sind hier, um mit unseren Sinnen Gaia’s Schönheit zu ehren, erkennend, dass auch wir Gaia sind, dass wir reine Schönheit sind, die in Schönheit lebt.

Sie nahmen mich mit und sie taten, was sie tun mussten. Da sie zur Liebe keinen Zugang mehr hatten, lebten sie ihre Perversion. Statt Mitschöpfer auf dieser Erde zu sein, zerstörten sie. Ich nahm ihre Angst in mich auf. Ihre Angst ohne Liebe leben zu müssen. Das einzige verloren zu haben, was die Quelle unseres Seins ist. Ihre Angst wurde zu meiner Angst vor ihrer Wut. Nicht die gesunde Wut, mit der wir uns gut in die Welt bringen, sondern die Wut, die entsteht, wenn Liebe pervertiert wird.“

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