Wir Menschen der westlichen Welt, wahrscheinlich auch in vielen anderen Teilen der Welt, haben uns von unseren Gefühlen getrennt. Hätten wir das nicht getan, könnten wir den Ansturm von Schmerz und Trauer nicht ertragen, den jeder Spaziergang in der Natur, jeder Nachmittag in der Stadt, jede Fahrt mit dem Zug, ja fast jede Begegnung mit unserer Mitwelt, in uns auslösen würde. Aber auch der Großteil der Erinnerungen an unsere Kindheit, an Lob und Tadel, an die endlosen Stunden im Unterricht, als es verboten war aufzustehen, umherzugehen, zu lachen, in Kontakt mit anderen zu kommen. Unsere Eltern, die uns, meist in bester Absicht, aber doch, manipuliert haben, weil sie ihre Ängste auf uns projizierten, diese Ängste, dass wir nicht angepasst an eine machtvolle Gesellschaft aufwüchsen, bestimmte Schulabschlüsse nicht erreichen würden oder irgendwie anders wären.
Damit du verstehst, was ich meine, einige Beispiele. Du machst einen Spaziergang durch die Monokulturen der Weinberge oder Felder und begegnest einem Traktor, der hektarweise Gift verspritzt. Oder du wanderst auf einem Waldweg, den du vor Monaten zuletzt gegangen bist. Die Wege sind von schwerem Gerät umgegraben, mehr als die Hälfte der Bäume ist nur noch „Holz“ am Wegrand. Das Dach des Waldes, das eigentlich geschlossen sein sollte, besteht nur noch aus vereinzelten kleineren Kronen junger Bäume. Du fährst morgens um 7 Uhr mit dem Zug in die Stadt. Die Menschen sehen dich und einander nicht an. Ihre Gesichter drücken Gleichgültigkeit und Desinteresse aus. Viele sind mit ihren Handys beschäftigt. Beim Shopping siehst du eine junge Mutter, die ihren Dreijährigen hinter sich herschleppt. Eine andere schiebt den Kinderwagen, während sie telefoniert. Am Rand der Fußgängerzone sitzt ein Bettler. Wir alle kennen solche Szenen, ohne ihnen eine größere Bedeutung beizumessen. Wieso ist das so? Wieso erstarren wir nicht? Wieso rufen solche Szenen kein Erschrecken und Entsetzen in uns hervor? Wo ist unser Gefühl? Wie kann es sein, dass wir nichts fühlen? Wo ist unsere Betroffenheit über die zerstörte Natur? Unser Mitgefühl für die Kinder, den Bettler, die Mütter? Unsere Traurigkeit über die Leere in den Gesichtern? Wieso dissoziieren wir unsere Gefühle?
Weil es uns so beigebracht wurde. Unsere Erwachsenen haben uns gezeigt, wie der Umgang mit anderen auszusehen hat.
Kleine Kinder sind vollkommen offen. In ihnen ist noch nicht festgelegt, wie sie auf die Welt reagieren. Diese Offenheit unseres Gehirns, seine grundsätzliche Bereitschaft zu lernen, sich anzupassen, einem Modell zu folgen, hat den Menschen befähigt, all das zu tun, was wir heute sehen. Bist du jemals mit einer Dreijährigen unterwegs gewesen? Sie wird alles erforschen. Blumen, Steine, weggeworfenes Papier, was auch immer ihren Blick fängt. Und sie wird es nicht nur genau untersuchen, sondern sich auch an dich wenden. Mit Fragen, Blicken, sie wird jede deiner Reaktionen genau beobachten und aufnehmen. Wenn du den Regenwurm, der sich nach dem Regen hilflos im Rinnstein windet, als belanglos abtust, wird dies eine andere Wirkung auf sie haben, als dein emphatisches Eingehen auf seine missliche Situation und die Hilfe, die du ihm gibst, wenn du ihn auf den Grünstreifen setzt. Zeigst du in solchen Situationen keine Gefühle, lernt sie, selbst zu dissoziieren. Sie wird deine abgeschalteten Gefühle imitieren. Gibst du ihr dazu noch eine kognitive Erklärung, alla „so ist das halt nach dem Regen. Sie werden nach oben geschwemmt und liegen dann auf der Straße. Komm lass uns weiter gehen.“, wird sie genau dieses Muster übernehmen und irgendwann selbst nach kognitiven Erklärungen suchen, um ihre Erlebnisse einzusortieren und ihre Gefühle ignorieren.
Genauso wachsen wir auf. Wir lernen unsere Gefühle auszuschalten und nehmen uns damit eine enorme Fähigkeit für Glück und Freude. Ohne Dissoziation gäbe es keine Vergiftung unserer Welt, es gäbe keinen Hunger, keine unpersönlichen Städte mit Plattenbauten, keine Schulen in denen wir unsere Kinder den Grausamkeiten anderer Kinder ausliefern. Stattdessen wären wir darauf bedacht, dass alle Wesen glücklich sind.
Im vorkolonialen Afrika war das Prinzip des Ubuntu verbreitet. Ein Missionar besuchte ein afrikanisches Dorf. Er stellte einen Korb mit Früchten unter einen Baum und erklärte den Kindern, die sich um ihn versammelt hatten, dass der ganze Korb, mit allen Früchten, dem Kind gehören solle, dass bei einem Wettrennen gewinne. Er zog eine Startlinie in den Sand und die Kinder stellten sich dahinter auf. Als er in die Hände klatschte, erwartete er, dass alle losrennen würden, um die Früchte zu gewinnen. Doch die Kinder taten etwas anderes. Sie reagierten auf das Klatschen, indem sich alle bei den Händen fassten und langsam gemeinsam zu dem Korb gingen. Auf die Frage des Missionars, wieso sie so handeln würden, antworteten sie mit einer Gegenfrage: Wie könne sich ein Kind freuen, wenn die anderen traurig seien?
Ubuntu täte uns allen gut. Und der Weg dorthin heißt Mitgefühl.
Wir können Mitgefühl in uns wachrufen, indem wir anerkennen wann und in welchen Situationen wir dissoziieren. Und indem wir die Traurigkeit darüber zulassen. Das bringt Mitgefühl in uns, für uns hervor. Und wir können emotional offen durch die Welt gehen, statt unsere Gefühle abzuschotten. Wir können uns berühren lassen. Von der Welt, von Menschen, Situationen, Schicksalen. Wir können uns beobachten und allzu schnelle kognitive Erklärungen unseres Verstandes emotional neu einschätzen.
Wir können auch noch einen Schritt über das Mitgefühl hinaus gehen zum Mitgespür. Damit meine ich eine Offenheit, die es uns erlaubt, tatsächlich zu spüren, was das Gegenüber fühlt und in uns eine emotionale Reaktion zuzulassen. Das können zum Beispiel Tränen der Freude oder Verbundenheit sein, die wir zeigen und fließen lassen. Im Unterschied zum Mitleid, werden wir dabei nicht vom Leid des anderen absorbiert. Wir bleiben bei uns, in unserer Kraft und Stärke, in unserem Licht und erlauben uns von diesem kraftvollen Ort aus, alle Gefühle zuzulassen, die sich nun in uns zeigen, weil wir mit dem Anderen tief verbunden sind.
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