Gesundheit

Jeder hat sein eigenes Gefängnis

Angekommen? Bist du angekommen?


Die Frage höre ich immer wieder. Seit Ende Juli 2024 bin ich in Paraguay. Ausgewandert. Nun wollen die in Deutschland zurückgebliebenen Freunde und auch Menschen, die ich hier treffe oft wissen „Bist du angekommen?“
Die Frage stelle ich mir selbst auch immer wieder. Was bedeutet es denn „angekommen“ zu sein? Meint es, hier ist alles so, wie ich es mir vorgestellt habe? Oder, habe ich mich an das angepasst, was ich hier vorfinde? Geht es darum, dass ich vor dem Ankommen, irgendwie getaumelt, geschwebt oder getorkelt bin und nun wieder fest auf dem Boden stehe? Die Kontrolle über mein Leben zurückgewonnen habe, die ich mit der Auswanderung verloren habe? Ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass ich hier mehr und mehr die Kontrolle verliere. Oder sie loslasse. Es geht weniger darum das Leben zu planen, als mich dem Leben hinzugeben.
Das beginnt mit dem Wetter. Wenn es aus Eimern kübelt und die Sandstraße Matschstraße heißt, ist der Tag geplant. Ich bleibe zu Hause. Wenn es 33 Grad und enorm schwül ist, die Moskitos mich fast auffressen, bleibe ich drinnen und die Klima läuft. Ein Gewitter ist auch nie nur ein Gewitter. Meist treffen mehrere von verschiedenen Seiten aufeinander, es blitzt in allen Himmelsrichtungen, der Wind biegt die Palmen und der Donner ist so laut, dass die Hunde sich an mich drängen. Doch meist ist es einige Stunden später auch wieder vorbei.
Paraguay nimmt dir die Kontrolle über deine Tagesplanung. Der Handwerker hat sich für Mittwoch früh angekündigt. Gegen Mittag fragst du nach wo er bleibt, spätestens Anfang der folgenden Woche telefonierst du dir die Finger wund, um einen anderen zu finden.
Nichts ist hier, das sich wirklich mit Deutschland vergleichen ließe. Zuerst rennst du dagegen an, dann weißt du nicht mehr, was du davon halten sollst, irgendwann ergibst du dich. Ja, hier ist alles anders. Du bist ja auch nicht hierher gekommen, weil du das vorfinden wolltest, was du zurück gelassen hast, oder? Du hast dich in Deutschland von Biowaren ernährt? Ja, mit sehr viel Aufwand kannst du das auch hier in einigen Regionen schaffen. Am besten dort, wo viele Deutsche wohnen. Es ist eine Frage deiner Prioritäten. Und ich verspreche dir: Die ändern sich hier! Du merkst jeden Tag etwas mehr, dass du Deutschland in dir trägst. Du willst, dass der Senf so schmeckt, wie du es kennst, die Pommes denen ähneln, die du früher gegessen hast. Du erwartest, dass ein Elektrogerät funktioniert, nur weil du es neu gekauft hast. Du wünschst dir, dass Arbeiten, schnell und in guter Qualität ausgeführt werden, eigentlich willst du doch, dass alles so ist, wie in Deutschland. Und natürlich ist die Erinnerung an Deutschland auch recht schöngemalt.
Außer den Restriktionen. Die willst du nicht. Schließlich bist du wegen deiner Freiheit hierher gekommen. Die hast du in vielen Bereichen auch. Ob du dein Haus spiralförmig oder in Form eines Zuges baust, interessiert hier niemanden. Du darfst nachts um drei laut Musik hören, wenn dir danach ist, brauchst keine Versicherung, weder Kranken noch Auto, abzuschließen. Du hast hier viele Freiheiten. Und du hast Verantwortung. Denn Verantwortung ist die Kehrseite der Freiheit.
Du trägst hier die Verantwortung für dich. Niemand übernimmt es sonst. Paraguay wirft dich auf dich zurück. Du hast eine Grenze überschritten, deine Komfortzone verlassen, bist auf Abenteuer gegangen, hast das Labyrinth betreten … Dahinter kannst du nicht zurück. Es geht nur nach vorne weiter. Schritt für Schritt spürst du deiner Intuition nach, horchst auf dieses feine Stimmchen, dass sich schon so oft gemeldet und dir zugeflüstert hat. Es hat von loslassen, von Vertrauen ins Leben, von Liebe und Zulassen gesprochen. Vielleicht hast du anfangs versucht es verstummen zu lassen. Hast mehr Kaffee getrunken, Alkohol versucht, Dinge gegessen, die du eigentlich nicht mehr isst. Hast dir eine neue Philosophie zurecht gelegt. Und all das hat der Idee gedient, die Kontrolle über dein Leben aufrecht zu erhalten. Wenn du vor lauter Kaffee deinen Schlaf verloren hast, der Alkohol für Kopfweh gesorgt hat und dein Darm sich rüde gegen Fett, Weißmehl und Zucker wehrt hast du eine Chance hinzuspüren. Manche machen weiter. Ihr Alkoholkonsum steigt, die deutsche Bäckerei hat einen Rekordumsatz an Kaffestückchen. Andere werden zynisch, tratschen und jammern. Wieder andere schimpfen endlos auf Land und Leute, mäkeln am Essen, am Wetter, an allem was sie umgibt … Tja, mit all dem kann man sich wunderbar davon abhalten Verantwortung zu übernehmen. Entscheidungen zu treffen. Das Leben in die Hand zu nehmen, loszugehen und zu handeln. Und ja, zu viel handeln ist auch eine wunderbare Abwehrstrategie.
Letztendlich hilft nur Bewusstheit. Sich selbst durchschauen, die eigenen Muster und Programme erkennen, Gedanken, Worte, Handlungen reflektieren. Was tue ich hier? Was tue ich hier wirklich, wirklich? Wieso diese Gedanken? Wieso diese Worte? Wieso diese Emotionen, die ich unterdrücke oder auslebe? Was sagt mir das über mich?
So, jetzt nähere ich mich wieder der Idee des „Ankommens“. Ankommen kann ich immer nur bei mir. Irgendwo wegzugehen, wo ich dachte ich sei angekommen, kann sehr hilfreich dabei sein. Vorher habe ich Halt (ankommen) vor allem im außen gesucht. Meiner Familie, meinen Freunden, meinem Land, meiner Heimat, vielleicht meinem Beruf. Wenn all das wegfällt, habe ich nur noch mich. Und bei mir anzukommen ist die eigentliche Kunst. Es geht um Glaubenssätze, die wir mit uns tragen, um die herum wir uns eine Identität aufgebaut haben. Vor vielen Jahren habe ich in einem Buch zum Zen-Buddhismus gelesen. Der Autor besuchte ein einjähriges Retreat. In dem Jahr starb sein Bruder. Ihm wurde nicht erlaubt das Retreat zur Beerdigung zu verlassen. Natürlich hätte er jederzeit gehen können, es lag in seiner Verantwortung. Doch er hatte dazu nicht die Zustimmung seines Lehrers. Damals hat mich die Geschichte schockiert. Ich konnte es weder verstehen noch nachvollziehen. Heute ist mir klar, es ging darum, die hinter dem Handeln liegenden Glaubenssätze zu verstören. Nur wenn wir bereit sind unsere kulturellen Vorstellungen und Ideen zu hinterfragen, können wir den Punkt der Entscheidung erreichen. Nur dann ist es möglich Verantwortung für unseren nächsten Schritt zu übernehmen. Gefangen in unhinterfragt übernommenen Glaubenssätzen und Mustern ist wirkliche Freiheit nicht möglich.
Manche klammern sich hier an genau diese Muster. Andere werden religiös, suchen nach einem neuen Glaubenssystem, das ihnen Halt gibt. Oder wie eine Bekannte sagte: „Jeder hat sein eigenes Gefängnis!“

Previous Post Next Post

You Might Also Like

No Comments

Leave a Reply