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Trauma und transgenerationale Übertragung

Trauma und transgenerationale Übertragung

Der Rücken meiner Mutter


Meine Mutter hatte einen breiten Rücken. Er konnte viel tragen und bürdete sich viel auf. Ich kann mich gut an ihren Rücken erinnern. Er war stark und etwas gebeugt.
Ich habe keine Erinnerung an geöffnete Arme und einen einladenden Blick. Es war ihr Rückzug. In ihre Vergangenheit, in sich. Abgeschlossen und nicht erreichbar. Für mich als Kind war es hoch bedrohlich. Sie war einfach nicht da. Absorbiert von einer Zeit, in die ich ihr nicht folgen konnte.
Kinder wissen sich geliebt, wenn Erwachsene sich ihnen zuwenden. Sie sehen, in ihrem So-Sein und ihrem Potential. Der Rückzug des Erwachsenen, das Abwenden vom Kind, ohne ihm in Liebe eine Erklärung zu geben und es mitentscheiden zu lassen, wie der nächste gemeinsame Schritt aussieht, lassen in ihm Hilflosigkeit aufsteigen. Kleine Menschen machen immer zuerst sich verantwortlich für die Handlungen ihrer Erwachsenen. Wendet der Erwachsene sich ab, liegt es an ihnen. Etwas in ihnen kann nicht in Ordnung sein. Sie wissen nichts von den Verletzungen der Großen und den Strategien, die sie darum gebaut haben. Und oft wissen die Großen es selbst nicht.
Wie auch immer. Es ist an der Zeit, dass wir aufhören Kinder als unfertige Mangelwesen wahrzunehmen. Kinder bringen alles mit, was sie brauchen, um ein erfülltes und glückliches Leben zu führen, gelingende Beziehungen aufzubauen, sich in soziale Kontexte zu integrieren und liebevoll mit sich und der Welt zu leben. Dazu brauchen sie unseren Schutz und unsere Begleitung in der Gegenwart. Was sie nicht brauchen sind die Strukturen, die wir uns aufgebaut haben, um Schmerz, Verzweiflung, Hilflosigkeit und all die Ängste unserer Kindheit nicht mehr zu fühlen. Es ist an der Zeit, dass wir aufhören sie damit zu füttern. Unsere Überlebensstrategien sind letztlich nur Konserven. Fertigfutter. Ohne Gehalt, ohne Nährwert.
Mutter’s Rücken hat mich als Kind erstarren lassen. Und dieses Kind lebt in der Großen weiter. In manchen Situationen, in denen es sich ausgeliefert fühlte, hat es die Erstarrung in mir ausgelöst. Es mag sein, dass dies in der Zukunft wieder geschieht. Doch jetzt kann ich es einordnen. Damit ist der wichtigste Schritt getan, um auch mit Situationen, die ich als hilflos empfinde, gut leben zu können.

Trauma und transgenerationale Übertragung

„Hast du dich das schon einmal gefragt: Was wäre in deinem Leben anders gelaufen, wenn deine Urgroßeltern keinen Krieg erlebt hätten, wenn deine Großeltern nicht hätten hungern müssen oder nicht dazu gezwungen worden wären, ihr Heimatland zu verlassen? Wenn niemand viel zu früh einen geliebten Menschen hätte verlieren müssen, wenn Kinder ohne Gewalt und Missbrauch aufgewachsen wären? Wenn es in deiner Ahnengeschichte lauter glückliche und zufriedene Menschen gegeben hätte – wärst du der Mensch, der du heute bist?
Wer wärst du wohl, wenn deine Eltern dich nicht gebraucht hätten, als Trost, als Lebenssinn, als Partnerersatz, als Hoffnungsträgerin für eine bessere Zukunft, als Möglichkeit der Wiedergutmachung, als Sündenbock oder als Bestätigung dafür, gute Eltern zu sein? Wer wärst du, wenn du hättest sein dürfen, wer du bist? Ein erwünschtes Kind, um deiner selbst willen geliebt und geachtet, angenommen mit allem, was zu dir gehört. Vielleicht wärst du dann einfach ein glücklicher Mensch, der sich so annehmen kann, wie er ist, mit allen Stärken und Schwächen; jemand, der seine Talente kennt, diese mit Leidenschaft lebt und der seinen Platz in der Welt gefunden hat.“

Sabine Lück

Trauma und transgenerationale Übertragung

In der Tiefe der Nacht

Ich schrecke hoch. Etwas hat mich geweckt. Ein lautes, ungewohntes Geräusch. Es ist stockdunkel, mein Herz pocht. Mein gesamtes System ist aktiviert und bereit sich zu wehren. Durch meinen Kopf zucken unkontrollierte Gedanken. „Was war das? Da ist etwas. Da schleicht jemand ums Haus!“ Die Angst hat schon beim Erwachen ihre Krallen ausgefahren und hält mich nun fest im Griff. Ich bin überzeugt, dass jemand mir Böses will. Ums Haus schleicht. Nur darauf wartet, dass ich atme, um mir etwas anzutun. Ich bin starr, kann mich nicht mehr bewegen. Mein Atem geht flach und stoßweise. Da ist das Geräusch wieder. Ich schrecke wieder hoch und gleichzeitig atme ich tief ein. Eine Pomelo. Der Baum hat eine Pomelo aufs Dach fallen lassen. Erleichterung läuft durch meinen Körper und ich entspanne mich. Dann setzt mein Denken wieder ein. Wieso diese Angst? Völlig unbegründet? Auf jeden Fall diffus. Das kenne ich von früher. In Deutschland hat diese Angst mich daran gehindert nachts alleine in den Wald zu gehen. Eine tiefe Angst. Existenzangst. Und das Wissen, dass jemand nicht möchte, dass ich lebe.
Ich beschließe mich der Angst zu stellen. Sie ist noch da. Ganz dicht unter der Oberfläche meines Bewusstseins. Ich lege mich zurück, schließe meine Augen und lasse zu, dass sie wieder aufsteigt. Mein Herz beginnt wieder laut und schnell zu pochen. Ich habe das Gefühl, die Angst umhüllt mich, wie ein Kokon, in dessen Mitte ich liege und ihr ausgeliefert bin. Und dahinter der Wunsch eines Wesens, das mich nicht will. Ich soll nicht sein. Ich fühle mich winzig klein und da draußen ist etwas, das mich nicht will. Dann taucht ein Bild auf. Das Bild eines Kindes im Mutterleib. Und dann klärt es sich. Meine Mutter war mit mir schwanger von einem verheirateten Mann. Ein Teil von ihr wollte nicht, dass ich bin. Ein Teil von mir ist genau an diesem Trauma stehen geblieben. In dieser Wolke von Nicht-gewollt-sein, die meine Angst ausgelöst hat.
Ich tauche schon immer tief. So tief bin ich noch nie getaucht.
Der Nacht ging voraus, dass ein Mensch, den ich traf, mit aller Macht versuchte mich zu kontrollieren. Im Wachbewusstsein, hatte ich eine sehr klare Vorstellung davon, wer er ist und wer ich bin. Mein tiefes Sein nahm diese Energie, verband sie mit der frühen, tiefen Angst und die Pomelo brachte alles ins Bewusstsein.
Ich weiß, dass diese diffuse Angst nicht mehr auftauchen wird. Von nun an gibt es eine Zuordnung. Diffus war sie nur, solange sie als Schleier durch meine Seele zog und sich vom nicht-wirklich-wahr-sein nährte.
Dass meine Mutter mich nicht wirklich wirklich wollte, weiß ich schon lange. Nun hatte auch dieses kleine Wesen seinen Moment, wurde gesehen und gehört. Es hat viele Jahre diesen Schmerz für mich gehalten und durfte sich nun entspannen. Ich sehe seinen Schmerz, der meiner ist. Ich sehe seine Not, die meine ist. Ich sehe seine Verzweiflung, die auch meine ist. Und nun eigentlich nicht mehr. Denn all die an diesem dunklen Ort gefrorene Energie hat sich gelöst. Fließt nun frei. Das kleine Wesen schläft mit einem bezaubernden Lächeln auf seinen Lippen und ruht sich aus. So lange hat es gewacht. Wenn ich daran denke spüre ich wie meine Adern sich weiten. Wie mein Brustkorb weit wird. Es wird hell und warm.
Die Hütte im Busch, der Mensch … ich danke dem Leben, dass es mich an diesen Ort geführt hat und diese alte, tiefe Angst erlöst wurde.

Trauma und transgenerationale Übertragung

Traumatisierungen können Opfer zu Tätern machen

Die transgenerationale Weitergabe von Verhalten führt dazu, dass immer wieder Täterverhalten der Eltern beim Kind gespeichert und später in entsprechenden Situationen von diesem abgerufen wird.

Bindungs- und Entwicklungstraumatisierungen stürzen Menschen oft in große Verwirrung. Irgendwann erleben sie sich selbst als Täter. Meistens spüren sie diese innere Tendenz, wenn sie ein Wesen gegenüber haben, das ihnen unterlegen ist und Verhaltensweisen eines Opfers zeigt. Das kann beim eigenen Kind, beim Hund oder in einer erstmal neutral wirkenden Situation sein, wenn zum Beispiel ein Autofahrer auf die Katze oder das Reh auf der Straße zuhält, statt abzubremsen. Das Kind wird angeschrien, weil es ein bestimmtes Verhalten gezeigt oder eben nicht gezeigt hat. Der Hund wird an der Leine hinter dem Menschen her gezerrt und dabei übel beschimpft. Dem kann eine lange Zeit voraus gehen, in der sich die Menschen nicht spürten. Eine Zeit, in der sie hauptsächlich im Außen orientiert waren, Ablenkung in Events suchten und vielleicht ab und an ihre Grenzen spürten, als sie sie massiv überschritten. Alkohol und/oder Drogen konsumierten, ev. gefährliche Hobbys hatten, sexuelle Abenteuer suchten.

Menschen, die als Kinder zum Opfer ihrer Erwachsenen werden, haben erlebt, dass ihr Verhalten dazu geführt hat, dass der Vater, die Mutter sie anschrien, sie oder auch sich selbst beschimpften. Was auch immer geschah, es hat das Kind damals so verstört, dass es beschloss ein Verhalten als Tabu zu labeln und sein eigenes erlebtes Gefühl abzuspalten.
Erlebt der Erwachsene dann ein Wesen, das er als unterlegen definiert, das dieses abgespaltene Verhalten zeigt -oft handelt es sich um unterwürfiges Verhalten, es kann jedoch auch Lebensfreude, Trauer oder Aggression, letztlich jedes Verhalten sein- steigt die unbewusste Angst auf, das abgespaltene Gefühl könne wieder auftauchen. Da dieses Gefühl mit Existenzangst gekoppelt ist, muss auf jeden Fall verhindert werden, dass es wieder erlebt wird. Daher wird nun versucht das Verhalten des Gegenüber zu verändern. Durch eigene Aggression oder durch Depression und emotionale Erpressung -wenn du das tust, wird Mama so traurig! Du bist selbst Schuld, dass du eine gefangen hast!
Manipulation ist eine weitere Täterstrategie. Dabei ist es gleich, ob es sich um positive oder negative Manipulation handelt. Negative Manipulation kann beispielsweise eine angedrohte Konsequenz sein -tja, wenn das heute so weitergeht, dann war es das wohl mit deinem Wochenendausflug! Als „positive“ Manipulation ist ein Lob zu sehen, das nicht aus dem Herzen kommt, sondern hinter dem ein geheimer Lehrplan steht. Wenn Geld für gute Noten gezahlt wird oder das Lob dazu führen soll, dass bestimmte Handlungen wiederholt werden, die nicht das Sein des Kindes in den Mittelpunkt stellen, sondern das Wohlbefinden der Erwachsenen. Wird gutes Verhalten belohnt, geht es oft darum, dass der Erwachsene sich nicht vor anderen „blamiert“ sehen möchte, was seine Scham triggern könnte, weil sein Kind negativ aufgefallen ist. Oder sich nicht mit Institutionen wie Schulen auseinander setzen möchte, weil die Lebendigkeit des Kindes dort stört.
Jegliche Täter-Verhaltensweisen wirken negativ in mehrere Richtungen. Das Kind wird in seinem So-Sein abgewertet. Der Täter verletzt sich selbst durch seine Verhaltensweise und rutscht oft von der Aggression in Depression, Schuld- und Schamgefühle. Konsequent weitergedacht kann dies zu Mord oder Suizid führen.
So entsteht eine seltsame „Normalität“ in der Zwickmühle des Opfers, das immer wieder Täterverhaltensweisen zeigt und nicht weiß, wie es eine Veränderung herbeiführen kann, falls schon so viel Bewusstsein besteht zu erkennen, dass er sich oft an entgegengesetzten Polen bewegt.

Der Ausstieg kann nur über Bewusstwerdung geschehen. Dem Bewusstsein muss dann Verantwortungsübernahme folgen. Beide Schritte sind angstbesetzt. Verantwortungsübernahme bedeutet, abgespaltene Gefühle zuzulassen. Aufkommende Schuld, Scham, Peinlichkeit und auch Angst- und Panikgefühle bewusst zu spüren, eventuell darüber zu sprechen -ich schäme mich, wenn ich nur daran denke. Ich traue mich nicht, es auszusprechen- und sich wenn nötig Hilfe zu holen, um die Prozesse zu entwirren, zu verstehen und damit Veränderung zu initiieren.

Es braucht dabei nicht darum zu gehen, wer wann was falsch gemacht hat, obwohl das natürlich ein Ansatz sein kann, auch um Bewusstsein für eigene innere Anteile zu schaffen, die weiterhin in Not sind. Letztlich war jeder Täter zu einer anderen Zeit Opfer und wiederholt seine Not, wie um eine Lösung zu finden. Es kann also nur um einen Ausstieg gehen. Indem Mechanismen entwickelt werden, zu erkennen „Handle ich gerade aus einem Anteil, der in der Vergangenheit feststeckt und im hier und heute eine Lösung für ein Problem der Vergangenheit sucht? Oder bin ich in meinem freien Erwachsenen-Ich und reagiere auf die gegenwärtige Situation adäquat?“ Hilfreich, um das zu erfassen, ist es, zu überprüfen, ob die Gefühle, die ich empfinde, zur Situation passen, oder ob sie unangemessen erscheinen. So kann ich feststellen, ob gerade ein Anteil am Start ist, der die Gegenwart mit der Vergangenheit verwechselt oder ob ich zentriert im hier und jetzt bin.

Trauma und transgenerationale Übertragung

Transgenerationale Übertragung

… findet unter anderem statt, wenn Eltern sich nicht spüren. Nicht in einem inneren Kontakt mit ihren Gefühlen und Körperempfindungen sind. Dies macht sie fühl- und empfindungslos für den Schaden, den sie verursachen. Mitgefühl beruht auf einem mit-spüren können, was das Gegenüber empfindet. Spüre ich mich nicht, kann ich auch nicht mit-spüren.

Stell dir vor, eine Mutter betrachtet ihr Kind mit dem Blick eines Forschers, der Geiseltierchen unter dem Mikroskop betrachtet. Er hat gerade einen chemischen Stoff in die Flüssigkeit gegeben und „erforscht“ nun, wie die Geiseltierchen darauf reagieren. Emotion- und Gefühllos.
Ein Kind das nach einer mütterlichen (oder väterlichen) Interaktion (zum Beispiel einer Strafe oder „Konsequenz“, es sind auch viele andere Interaktionen denkbar) so betrachtet wird, spürt sofort, dass keine Verbindung zwischen dem Elternteil und ihm besteht. Denn das Kind erwartet immer mit Liebe betrachtet zu werden -was sein Geburtsrecht ist-. Es wird darauf reagieren, indem es den Kontakt zu sich kappt. Alles andere wäre existenziell bedrohlich, sprich die Eltern könnten es in irgendeiner Form „verstoßen“, was traumatisierte Eltern tatsächlich immer wieder getan haben und bis heute tun*. Besser sich verlieren, als die Eltern verlieren. Das könnte bedeuten das Leben zu verlieren. (Was sowieso geschieht. Denn das Kind verliert sein Leben und lebt nun das Leben, das die Eltern ertragen können).
Ein Kind ist immer existenziell von seinen Eltern abhängig. Daher wird es alles dafür tun, die Beziehung zu schützen. Und das bedeutet meistens, es gibt sich, sein Wissen über sich, seine Vorstellung von sich, seine Liebe zu sich, auf, wenn es glaubt dadurch die Beziehung zu seinen Eltern zu riskieren. Kinder gehören zu ihren Eltern (von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen). Und Eltern sollten darin unterstützt werden, mit sich und ihren Kindern besser leben zu können. Dies ist in den meisten Fällen möglich, wenn an den Ursachen und nicht am Verhalten gearbeitet wird.

Die Eltern handeln nicht so, weil sie „böse“ Eltern sind. Sie handeln so, weil sie selbst so behandelt wurden und diese Art des Umgangs mit Kindern verinnerlicht haben. In der Transaktionsanalyse würde man sagen, sie handeln aus ihrem inneren Eltern-Ich heraus. Sie sind also nicht in Kontakt mit ihrem lebendigen aktuellen Sein, sondern agieren aus einem in der Vergangenheit erlernten und verinnerlichten Muster heraus, indem sie dieses wiederholen.
Auch diese Eltern haben als Kinder ihr Ich, ihr So-Sein aufgegeben, weil sie spürten, dass die Beziehung zu ihren Eltern gefährdet war.

*Eltern haben Kinder zu vielen Zeiten abgegeben. Zum Arbeiten beim Bauern oder Handwerker; in den Wald geschickt, weil sie glaubten sie nicht mehr ernähren zu können (sogar in das Kulturgut der Märchen eingegangen); als Sklaven verkauft und so weiter. In der Gegenwart gibt es Eltern, die sagen, ihr erwachsenes Kind sei nicht mehr ihr Kind, weil es sich nicht so verhält, wie sie es wünschen. Was haben solche Eltern wohl ihren Kindern vermittelt, als sie noch klein waren? Kinder werden in Heimen, Internaten und anderen Einrichtungen untergebracht, weil man „nicht mehr mit ihnen klarkommt!“. Es ist also nicht weit hergeholt, dass traumatisierte Eltern ihre Kinder verstoßen.

Trauma und transgenerationale Übertragung

Beziehung statt Erziehung

Wir haben nur eine Zukunft und das sind unsere Kinder. 

Ein afrikanisches Sprichwort besagt, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Auch wenn das sicher optimal wäre, die meisten Kinder haben das nicht. Stattdessen finden Eltern in jeder Buchhandlung eine unüberschaubare Anzahl an sogenannten Erziehungsratgebern. Darin sind tausend Möglichkeiten und ihr Gegenteil in der Kindererziehung beschrieben und mit nachvollziehbaren Argumenten belegt. Für jeden findet sich etwas, jedes Elternteil bekommt seine Voreinstellungen belegt und untermauert, was einzelne erfreut, in der Summe jedoch keine Richtung vorgibt. Eher hilft es bei der transgenerationalen Weitergabe der eigenen Traumata und Dissoziationen. Solange Eltern glauben ihre Kinder erziehen zu müssen, werden sie ihre eigentliche Aufgabe, nämlich ihren Kindern eine tragfähige und verlässliche Beziehung anzubieten, nicht erfüllen können. 

Trauma und transgenerationale Übertragung

Beim Heilwerden geht es darum,
unsere Herzen zu öffnen,
nicht sie zu verschließen.
Es geht darum, die Stellen in uns,
die die Liebe nicht einlassen wollen,
weich zu machen.

Heilung ist ein Prozeß.
Beim Heilwerden schaukeln wir hin und her
zwischen den Mißhandlungen der Vergangenheit
und der Fülle der Gegenwart und
bleiben immer öfter in der Gegenwart,
Es ist das Schaukeln, das die Heilung bewirkt
nicht das Stehenbleiben an einer der beiden Stellen.

Der Sinn des Heilwerdens ist nicht
für immer glücklich zu werden,
das ist unmöglich.
Der Sinn der Heilung ist,
wach zu sein und sein Leben zu leben,
nicht bei lebendigem Leibe zu sterben.
Heilung hängt damit zusammen,
gleichzeitig ganz und zerbrochen zu sein.


 
Geneen Roth

Trauma und transgenerationale Übertragung

Bindung

Unser Umgang mit Kindern von der Geburt bis zur Pubertät ist geprägt durch Abwesenheit von Empathie und das Verleugnen psychologischer Wahrheit.

An der Abschaffung der Bindung von Eltern und Kind wird schon lange gearbeitet. Schulpflicht, Kindergarten, Krippe bedeuten inzwischen vor allem Kontrolle und somit Aufweichung der Beziehungen. Die gleiche Funktion üben Ärzte, Behörden, hier auch das Jugendamt, aus und verwirren Eltern damit in ihrer Erziehungshaltung. 

Dazu finanzielle Kontrolle; Mittelstandsfamilien werden seit Jahrzehnten in die Situation gebracht, dass beide Eltern glauben außerhalb der Familie arbeiten zu müssen. Einmal, um einen angeblich nötigen, von der Werbeindustrie generierten Standard zu erreichen oder zu halten. Die Erziehung der Kinder wird als unwichtig diffamiert. Dies zeigt sich auch in der Verteilung der Gelder. Frauen und Männer, die ihre Kinder selbst in die Welt begleiten wollen, erhalten nur geringe finanzielle Zuwendung. Ebenso gehören Berufe, die Kinder in ihrem So-Sein bestärken, ihre Liebes- und Empathiefähigkeit unterstützen sollen, zu den schlecht bezahlten. Dies führt zu Personalmangel, ausgebrannten Mitarbeiter*innen mit allen bekannten Problemen, die in solchen Teams auftreten.

Es verwundert daher nicht, dass Kindertagesstätten inzwischen mehr Verwahranstalten denn sinnvolle Alternativen zur häuslichen Anbindung darstellen, es vielleicht schon immer waren. 

Krippen für die Erziehung der unter drei Jahre alten Kinder können den Bedürfnissen dieser Altersgruppe in keinster Weise gerecht werden. 

Auch der Umgang von Eltern mit ihren Säuglingen ist massiv gestört. Eine unüberschaubare Anzahl von Erziehungsratgebern, die keine Orientierung, dafür verwirrende Ratschläge über das gesamte Spektrum der Möglichkeiten geben, trägt nicht zur Klarheit bei. Daneben haben wir seit langer Zeit eine Kultur des Wegsperrens von Kindern. Schon von unter einen Jahr alten Mädchen und Jungen wird erwartet, dass sie alleine im Kinderzimmer schlafen, sich mit sich selbst beschäftigen und Freude an Spielzeug haben. Das Stillen, ein großer Pfeiler der Bindung, darf, wenn überhaupt, nur heimlich und höchstens ein paar Monate die Bindung und Gesundheit des Kindes stärken. Mütter erhalten oft schon in der Entbindungsstation falsche Informationen über den Ablauf des Stillens oder sie werden angewiesen zuzufüttern, was fast immer zu einem Auslaufen des Stillens führt. 

Dass die inzwischen doch beachtlichen Erkenntnisse zur Bedeutung von Bindung bei Kindern keinen Eingang in die familiäre Planung und besonders auch in die staatliche Planung finden, kann nur bedeuten, dass Bindung nicht erwünscht ist. Wozu auch? Eine gute Bindung führt schließlich zu frei und selbst denkenden Menschen, die schlecht zu kontrollieren sind. Während unsicher gebundene Kinder zu Erwachsenen heran wachsen, die getrieben von einem inneren Mangel an Liebe, gute Konsumenten werden, sich leicht durch Autoritäten lenken lassen und als Ersatz zur elterlichen Bindung, die Bindung an Objekte vollzogen haben. Diese Bindung an Objekte hält von da an eine gute Spaltung in „Ich“ und „Du“ aufrecht, die es zum einen erlaubt das Gegenüber als Objekt zu erleben und sich auf dessen Kosten zu entlasten, zum anderen ist es eine Quelle stetiger Unsicherheit und Angst, über die der jeweilige Mensch leicht zu kontrollieren ist.

Ein besonderes Thema ist die schulische Bildung. Während Bildung als solches sicher eine Errungenschaft sein kann, ist es fraglich, was wir unseren Kindern antun, wenn wir sie in die Obhut einer Institution geben, die ihre Individualität nicht nur nicht achtet, sondern sie durch Gleichschaltung und Anpassung ersetzen möchte. Mädchen und Jungen erhalten dann Zuwendung, wenn sie die jeweiligen Regeln gut beachten, um dem Lehrpersonal nicht negativ aufzufallen, andererseits sich stark genug abgrenzen können, um nicht in den Fokus von Kindern zu geraten, die ihren Frust über ihre Verformung durch nicht angreifbare Erwachsene, an schwächer scheinenden Kindern auslassen.

In der Pubertät ist aktuell das letzte Aufbäumen gegen die inhumanen Praktiken unserer Erziehung zu beobachten. Es ist letztlich der Kampf des Individuums gegen das Verinnerlichen menschenverachtender Ideen, wie das Leben in der Leistungsgesellschaft aussehen soll.

Wir alle haben diese Welt so gestaltet. Aktiv, durch Gleichgültigkeit, durch passives Mittragen oder wie auch immer. Unsere innere Ausgangsposition ist die eigene frühkindliche Traumatisierung, die so verbreitet ist, dass wir sicher von einer traumatisierten Gesellschaft sprechen können. 

Der Weg hinaus ist der Weg hindurch. In diesem Sinne ist es nötig, dass wir uns mit unseren früheren Bindungstraumatisierungen beschäftigen, erkennen welche Weichen durch sie gestellt wurden und uns auf einen Heilungsweg begeben. Ob mit einer Therapeutin oder mit lieben Freunden bleibt jedem überlassen. Wichtig ist nur, dass wir genau dort hinschauen, wo wir nicht hinschauen möchten. Der Weg hindurch ist der Weg durch die Angst, die so zu einem wunderbaren Führer und Gefährten wird. 

Trauma und transgenerationale Übertragung

Friede

Wir haben uns eine Welt erschaffen, in der …

… das Äußere wichtiger erscheint, als das Innere. Wir alle haben es erschaffen. Jeder und jede einzelne. Weil wir den Krieg, die Gewalt in uns tragen und es verbergen möchten. Wir betonen das Äußere so sehr, weil im Inneren soviel Angst herrscht. Wir tragen das Trauma in uns. Nicht erst seit kurzem, sondern seit Tausenden von Jahren. Es ist ein Teil von uns geworden, daher sehen wir es nicht.

Jetzt ist die Zeit da, dies zu erkennen und unser Inneres zu heilen, damit unsere Gesellschaften heilen kann. Solange wir den Feind nur im Außen suchen, erkennen wir nicht, dass wir es selbst sind, die mit uns im Krieg leben. Wir projizieren unsere Ängste, unseren Widerstand, unsere Spaltung nach außen und versuchen sie dort zu heilen, während wir genau diese Spaltung in allen Bereichen, die wir betreten, säen. Sie umgibt uns wie eine zweite Haut. Spaltung ist Trauma, das aus uns effundiert. Und “uns“ meint die gesamte Menschheit.

Es ist an der Zeit, dass wir uns unseren Ängsten stellen. Dass wir nach innen schauen und voll Liebe die Schrecken begrüßen, die wir dort vermuten. Ja, es wird wehtun.  Ja, wir werden weinen, traurig sein und wütend werden. Doch wenn wir jedem Gefühl seinen Moment lassen, werden alle Gefühle, die auftauchen auch wieder vergehen. Und darunter wartet Weite. Und Leichtigkeit. Und Liebe. Unser Blick wird klar werden und wir werden die Welt sehen können, wie sie wirklich ist. Und dann werden wir wissen, was zu tun ist. Und wir werden es tun. Wenn in uns keine Gewalt, keine Spaltung, kein Hass und keine Angst mehr wohnen, wird auch in der Welt Friede sein.

Trauma und transgenerationale Übertragung

„Das meiste menschliche Leid auf diesem Planeten rührt nicht von äußeren Schicksalsschlägen wie Unfällen und Naturkatastrophen her, sondern ist von Menschen selbst gemacht. Menschelhandel und Arbeit in Ausbeuterbetrieben, politische und häusliche Gewalt, Rassismus, Gewalt zwischen den Geschlechtern, Armut und Krieg – das alles hängt mit unseren Institutionen, unseren Wahrnehmungen, und unseren Narrativen zusammen. Diese Narrative sind aus Traumata entstanden und erzeugen neue Traumata.

Hierin besteht eine Verbindung zwischen wirtschaftlicher Gerechtigkeit und der Umwelt. Wir werden unsere Mitgeschöpfe weiter missbrauchen, sogar unsere eigene Mutter Erde, solange wir ungeheilte soziale Traumata mit uns herumtragen. Das bedeutet nicht, dass wir zuerst unsere Traumata heilen sollen, bevor wir versuchen, die Umwelt zu heilen. Es geht darum zu erkennen, dass soziale Heilung und ökologische Heilung zusammen gehören. Weder das eine noch das andere ist wichtiger; keines kann ohne das andere gelingen.

Nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip des Interbeing – der morphischen Resonanz – ist es leicht zu verstehen, dass eine Gesellschaft, die ihre verletzlichsten Mitglieder ausbeutet und missbraucht, auch die Natur ausbeutet und missbraucht. Wo man sich um verletzliche Menschen sorgt, entsteht ein Feld der Fürsorge, das es leichter macht, sich auch um andere verletzliche Wesen zu kümmern. Eine fürsorgliche Gesellschaft ist eine, in der es selbstverständlich ist zu fragen: “Wen haben wir vergessen? Wer leidet? Wessen Potential haben wir nicht erkannt? Wessen Bedürfnisse haben wir nicht berücksichtigt?“ Das sind Leitfragen, sowohl für eine ökologische Gesellschaft, als auch für eine gerechtere Gesellschaft.“

Charles Eisenstein, “Klima. Eine neue Perspektive.“