Wieso verweigern Menschen anderen ihre Empathie? Wieso verweigern sie sogar ihren Kindern ihre Empathie? Wieso hören sie im Schreien des Säuglings nicht seinen Schmerz? Was treibt die dazu, ihr Baby alleine in ein Zimmer zu legen und davon auszugehen, so werde dieses kleine Kind „richtig“ zum Schlafen oder sogar Durchschlafen erzogen? Wieso legen sie soviel Wert auf Erziehung und so wenig auf Beziehung? Was bringt Eltern dazu ihre Kinder abzulehnen, zu demütigen, zu verletzen?
Noch bis 1987 konnte man das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer in deutschen Buchhandlungen kaufen. Es wurde in den 1930ern verfasst. 1949 wurde der Titel in „Die Mutter und ihr erstes Kind“ geändert. Während der Nazizeit erreichte es eine Auflage von 600 000 Büchern und nach 1949 nochmals 600 000.
Voller schwarzer Pädagogik, wies es Mütter an, ihre Kinder direkt nach der Geburt wegzulegen und einen Tag lang nicht zu beachten, bestimmte genau, dass die Mutter nur alle vier, im Ausnahmefall alle drei Stunden stillen dürfe, nachts acht Stunden Stillpause einzulegen habe und dazwischen das Kind nur beachten dürfe, wenn es sauber gemacht werden musste oder krank war.
Frau Haarer sprach dem Kind jegliche Gefühle ab, außer dem mächtigen Wunsch nach Macht über die Mutter. Gäbe man dem auch nur einmal nach, ziehe man sich einen kleinen Tyrannen heran.
Alleine war Frau Haarer mit ihren abstrusen Vorstellungen nicht. Auch noch bis in die 1980er Jahre gingen Mediziner davon aus, dass kleine Kinder keine Schmerzen empfänden. Daher wurde bei Operationen an Kindern bis Ende der 1980er, nur wenig Narkosemittel und oft kein Schmerzmittel verabreicht. Schreien und entsprechende Mimik wurden als Reflexe gedeutet.
Wie konnte es dazu kommen? Wissen wir inzwischen doch, dass Mütter instinktiv die Gefühle ihres Kindes wahrnehmen, erfassen und einsortieren, was sie direkt veranlasst ihr Kind zu beruhigen, es hochzunehmen mit aller Kraft dafür einzutreten, dass es dem Kind schnellstmöglich wieder gutgeht. Wir wissen auch, dass wir über unsere Spiegelneuronen die Gefühle des Gegenübers wahrnehmen, als erlebten wir die Situation selbst.
Es scheint so, als sei es den Menschen, die Haarers Anweisungen folgten, den Medizinern, die Kinder operierten und ihnen Schmerz- und Narkosemittel verweigerten, oder den Eltern, die ihre Kinder all dem auslieferten und die Anweisungen der schwarzen Pädagogik befolgten, nicht möglich gewesen, die Gefühle ihrer Kinder zu erkennen. Es war ihnen nicht klar, dass sie Kindern Gewalt antun, Gewaltthesen verbreiten und andere zur Gewalt gegen Kinder aufriefen. Sie hatten ihre Empathie unterdrückt, einen Teil ihrer Seele verbannt.
Gewalt ist leider ein Erfolgsrezept. Sie wirkt. Kinder die Gewalt erleben, passen sich dem Aggressor an. Sie entwickeln große Antennen für ihn und andere, versuchen seine Gedanken zu lesen, zu erraten in welcher Stimmung er ist, ob Gefahr droht.
Oft wird Gewalt, die Kinder erleben, in drei Bereiche unterteilt, die eine Steigerung implizieren:
- Emotionale (seelische, psychische) Gewalt
- Körperliche Gewalt
- Sexualisierte Gewalt
Sexualisierte Gewalt geht immer auch mit körperlicher und emotionaler Gewalt einher, körperliche Gewalt beinhaltet auch emotionale Gewalt.
Auf den ersten Blick, scheint emotionale Gewalt weniger schlimm zu sein. Allerdings kämpfen Menschen, die Gewalt erlebten, oft mit erfahrener emotionalen Gewalt viel länger und nachhaltiger, als mit körperlicher oder sexualisierter Gewalt (das gilt natürlich nicht immer und schon gar nicht für körperliche und sexualisierte Folter, die unabsehbare Auswirkungen nach sich ziehen kann).
Das geht unter anderem darauf zurück, dass es oft sehr lange dauert, bis emotionale Gewalt als solche von Betroffenen wahrgenommen wird. Sie wächst in jede Zelle, drängt sich in jedes Organ, lässt sich vom Blut in jeden noch so abgelegenen Winkel des Körpers tragen. Sie wird Teil des Menschen. Unsichtbar, weil sie sich als die Person selbst tarnt.
Ihr Vorteil liegt in ihrer „Subtilität“, in der Selbstverständlichkeit, mit der sie vorgibt Teil zu sein, dazu zu gehören. Und auch in unserem sozialen System und den daraus folgenden Glaubenssätzen, die wir verinnerlicht haben.
Emotionale Gewalt wird oft nicht als Gewalt gesehen, sondern als Rauheit, Grobheit oder Unfähigkeit eines Menschen seine „wahren“ Gefühle zu zeigen, missdeutet.
Beispiele für verbale emotionale Gewalt sind:
„Du bist schlecht. Durch das, was du tust oder eben nicht tust, verursachst du Leid. Meines und das von anderen. Siehst du, was du deiner Mutter angetan hast? Sie weint. Das ist deine Schuld. Wir haben nur wegen dir gestritten. Nichts kriegst du hin. Du bist dumm. Tölpel. Du hast zwei linke Hände und stolperst über deine eigenen Füße. Kannst du einmal etwas richtig machen? Ich wollte du wärst nicht geboren. Geh! Ich kann dich nicht mehr ertragen! Wie du wieder aussiehst.“
Daneben gibt es die bedeutenden Blicke, die abwertenden Gesten, das Nicht-Beachten, Ironie, Zynismus, das bewusste Vorziehen von Geschwistern, bösartige Bemerkungen im Beisein Dritter. Böse Worte und/oder ein böser Tonfall, Mimik und Körperhaltung, die hochgezogene Augenbraue, Witze auf Kosten anderer oder Vorwürfe, die wie aus heiterem Himmel kommen. Manipulation, etwas steif und fest behaupten, Gegenargumente klein machen und bagatellisieren. Nichts als gut genug befinden, Anerkennung höchstens für Teilbereiche zugestehen.
Wie können wir dieses umfassende Entstehen emotionaler Gewalt erklären?
Wir leben in einem System, das auf Hierarchien baut. Dieses System hatte vor circa 10 000 Jahren mit dem Beginn des seßhaft Werdens der Menschen seinen Ursprung. Während in nomadisch lebenden Gemeinschaften die Fähigkeiten jeder einzelnen Person für die Gruppe als Ganzes wichtig waren, wurden nun Bauern, Züchter und andere, die einen Überschuss an Nahrungsmitteln und weitere, für die Gemeinschaft wichtige Dinge bereitstellten, mächtiger und einflussreicher als andere.
Mit den Hierarchien veränderten sich auch die Machtverhältnisse. Männer waren mächtiger als Frauen und Kinder, bestimmte Berufe wichtiger als andere. Macht entwickelte sich zu einem Wert an sich. Wer Macht hatte, brauchte keine Empathie. Im Gegenteil. Empathie konnte verhindern, dass die Macht verteidigt und behalten wurde. Wer zu viel Empathie zeigte, galt schnell als schwach, konnte ausgenutzt werden und büßte im schlimmsten Fall seine Positionen ein. Die Hierarchie als solche sorgt also mit dafür, dass Empathie schwindet.
Es entwickelten sich viele Methoden, um klare Grenzen zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen zu ziehen. So zum Beispiel die Verteilung von Land, Tieren, Freiheit. Die unterschiedlichen Gesetze erlaubten es, je nach Stand, den einen, andere körperlich zu züchtigen, sexualisierte Gewalt auszuüben, zu heiraten, lesen und schreiben zu lernen, Kinder zu bekommen, Kriege zu führen, von den Steuern des Volkes zu leben, usw., während die Mehrzahl der Menschen sich dem Willen anderer unterordnen musste und heute noch muss.
Wir leben also seit tausenden von Jahren in Hierarchien, die darauf aufgebaut sind anderen empathisches Handeln zu verweigern. Wir finden diese Hierarchien überall in unserer Gesellschaft, auch in den Familien (ich könnte auch schreiben: „Bis hinunter in die Familie“, und jeder würde sofort dem Hierarchie implizierenden Satz zustimmen).
In der Familie steht ein Elternteil, meist der Vater, an oberster Stelle, die Kinder stehen auf der untersten Stufe. Wir alle haben das verinnerlicht. Wir wurden in dieses System hinein geboren, fast alle Erwachsenen um uns waren daran angepasst. Wir haben erlebt, wie es sich anfühlt, ohne Empathie behandelt zu werden, nicht gesehen zu werden; wir wurden nicht gefragt oder es wurde nicht auf uns gehört. Das geschah so oft und von so unterschiedlichen Personen, dass wir es für normal hielten (und halten). Hatten wir dann noch Erwachsene, die uns Gewalt antaten, schien emotionale Gewalt nur eine leichte Steigerung des normalen, gesellschaftlich akzeptierten Umgangs mit Menschen, insbesondere mit Kindern darzustellen.
Emotionale Gewalt sagt im Kern immer aus, das Kind sei falsch, so wie es ist. Ist ein Kind dem lange genug ausgesetzt, glaubt und verinnerlicht es diese Sicht. Je nach der Mächtigkeit des Verinnerlichten, entsteht ein sogenanntes „Täterintrojekt“. Diese Introjekte lassen das Kind die Position des Gewalttätigen einnehmen und halten es, oft bis ins Erwachsenenalter hinein, dort fest. In der Folge wird die erlebte emotionale Gewalt, in Vertretung des Aggressors, gegen sich selbst, gegen andere, selten gegen den Verursacher gerichtet.
Das Kind erklärt sich das, gegen es selbst gerichtete Verhalten des Täters, demgegenüber es innerlich loyal sein muss, damit, dass dieser etwas in ihm sieht, das böse ist.
Damit entlastet das Kind den Aggressor, weil es ihn braucht und ihm ausgeliefert ist, und ihn retten und schützen möchte. Mit inneren Sätze, die ihm zuvor so oder ähnlich vermittelt wurden, behält das Kind die Sicht des Täters auf sich im Inneren aufrecht und hinterfragt sie nicht mehr.
Schließlich war der Täter eine erwachsene Person, die mächtig erschien, vorgab die Welt zu verstehen und sich anscheinend sicher in ihr bewegte. Wie könnte solch göttliches Wesen nicht richtig liegen?
Daher geht das Kind davon aus, Kontrolle über sich ausüben zu müssen, damit das „Böse“, in ihm nicht zum Vorschein kommt. Könnten dann doch alle anderen sehen, wie dunkel und schlimm es in Wirklichkeit ist. Der Täter hatte ja auch erkannt, dass es nicht liebenswert ist.
Geht vom Erwachsenen „nur“ emotionale Gewalt aus, ist es meist ein schleichender Prozess von Grenzverletzungen, der nur schwer sichtbare Spuren hinterlässt. Dies ist für Dritte wenig auffallend und kaum zu identifizieren. Während sich bei körperlicher und sexualisierter Gewalt manchmal noch aufmerksame Menschen finden, die eingreifen, leiden Kinder die emotionale Gewalt erleben, fast immer unerkannt. Auch deshalb, weil die meisten Erwachsenen selbst emotionale Gewalt erlebt haben, ohne dies für sich als Gewalt erkannt und benannt zu haben; schließlich ist emotionale Gewalt unerkannter Teil unseres Gesellschaftssystems. Beziehungsweise werden bestimmte Formen emotionaler Gewalt in manchen Bereichen der Gesellschaft oder Berufen, als notwendig erachtet: Da braucht man Biß und muss die Ellbogen einsetzten. Schließlich ist das Leben kein Ponyhof. Wer Erfolg haben will, muss wissen wie man kämpft. Es wird agitiert und manipuliert, übergangen und aus dem Rennen geworfen, fertig gemacht und nieder gekämpft.
Emotionale Gewalt findet überall dort statt, wo wir glauben, wir seien, so wie wir sind, nicht genug. Entweder üben wir sie gegen uns oder andere aus, oder wir erfahren sie durch andere. Emotionale Gewalt gehört zu unserem Alltag und kommt oft vollkommen unsichtbar daher. Für das Kind und auch für den Erwachsenen, fühlt es sich vordergründig normal an. Wären wir darin geübt unsere Tiefe wahrzunehmen, abzusteigen, nähmen wir allerdings wahr, dass dieses “normal“, kein Gefühl beinhaltet, sondern Leere ist. Eine emotionale Leere, die entstand, weil wir uns unsere authentischen Gefühle verweigerten.
Diese emotionale Leere in uns schluckt unsere Lebensfreude, unsere Lebendigkeit und Vitalität. Es wachsen Selbstzweifel, der Glaube an die eigenen Fähigkeiten schwindet, während der innere Druck steigt und eine geduckte Lebenshaltung entsteht, die jeden Moment ein neues Gewitter, eine neue Strafe oder auch nur den nächsten Tadel erwartet. In der Folge geben wir die Verantwortung für unser Glück weiter ab. Statt kreativ auf das Leben zu reagieren, werden wir zu Konsumenten. Die Idee, Glück sei im Außen zu finden, verführt uns dazu zu denken wir könnten es kaufen. So erschaffen wir eine Gesellschaft ohne Glück, mit Menschen voller innerer Leere. Statt zu erkennen, dass jeder und jede genauso, wie sie ist, in Ordnung ist, laufen wir Ideen von Selbstoptimierung hinterher, die dieses wahnsinnige Rad, das wir in Bewegung gesetzt haben, weiter und weiter drehen. Wir treiben uns an, beruflich und privat, noch mehr Leistung zu erbringen. Wir jagen unsere Kinder vor uns her, immer auf der Hut vor dem Gespenst der Leistungsgesellschaft und was diese Gesellschaft angeblich von uns verlangt. Mit der Angst im Nacken, nicht mehr dazu zu gehören, wenn wir ihre Anforderungen nicht mehr erfüllen. Vollkommen egal, ob es dabei um das große Geld, die ökologische Ausrichtung, den Kleingartenverein, die Nachbarschaft oder irgend eine andere Zugehörigkeit geht. Das können wir nur erfüllen, wenn wir uns und unseren Kindern die Empathie verweigern.
Haben wir unsere Kreativität lange genug an andere abgegeben, ist es schwierig, wieder an unsere Kraft anzudocken. Dies wird meist erst möglich, wenn die Bereitschaft wächst, sich den heftigen, oft als vernichtend empfundenen Gefühlen der Kindheit zu stellen.
Die alte Angst, die das Kind motivierte, die Sicht des Mächtigen zu übernehmen, erscheint dann wieder. Meist nicht konkret und bewusst, sondern als Schatten, der irgendwo aus den Tiefen der Gedärme aufsteigt, bedrohlich und unversöhnlich. Für die Person fühlt es sich an, als müsse genau das unter allen Umständen vermieden werden.
Doch nur bewusstes Hinschauen, Wahrnehmen und Erkennen hilft weiter. Emotional und kognitiv. Es gilt diese alten Ängste zu durchlichten, was möglich wird, indem man sich ihnen stellt und dadurch erfährt, dass die Ängste unserer Kindheit für den Erwachsenen von heute handhabbar sind. Dass Angst nur ein Gefühl ist, das seinen Moment möchte und sich dann wandeln kann in seine ursprüngliche Essenz. Denn Angst ist, wie jedes unsere Gefühle, in der Tiefe des Seins, Lebensenergie. Pure, reine Lebensenergie, die wir genutzt haben, um das Gefühl der Angst zu formen.
Nach der Beschäftigung mit der Angst, wird für den jetzt Erwachsenen sichtbar, dass der Vater/die Mutter seine innere Unsicherheit damals auf das Kind projizierte und versuchte, seine eigenen, als unzulänglich erlebten, Gefühle im Kind zu verändern.
Nicht die fantasierte Unzulänglichkeit des Kindes ist das Problem, sondern die, oft über Generationen weiter gegebene Unklarheit der Grenzen zwischen dem Innen des jeweiligen Erwachsenen und dem Außen des Kindes.