Die alte Frau sah ihr tief in die Augen. Dann wandte sie den Blick ab und begann zu sprechen:
„Nicht immer sind es deine Wunden. Manches Mal kommen sie aus der Tiefe der Zeit. Sie wurden bei deinen Ahnen geboren, als es nicht Liebe war, die die Kinder nährte, sondern Schmerz und Angst. Sie entstanden im Kreiseln eines Lebens, um Krieg, Überleben und Verletzungen des Körpers und der Seele. Die Wunden waren die Folge von Kindheiten, denen die Liebe fehlte und Elternschaft, die ihre Wunden noch mit sich trug. Sie entstanden aus Unachtsamkeit und Fehlinformation, aus Mangel an Bewusstheit und Lebensfeindlichkeit.
Doch auch wenn sie aus der Ferne zu dir kamen, heute liegt es an dir. Heilung beginnt mit der Entscheidung hinzuschauen. Erst wenn du wach und bewusst hinterfragst, zeigt sich der nächste Schritt. Den alten Gefühlen der Schuld und Scham nicht mehr zu glauben und Verantwortung für dein Leben, genauso wie es heute ist, zu übernehmen, verbindet dich in der Tiefe mit deiner Kraft und Stärke. Steh auf und sieh hin. Höre die Stimmen deiner Ahnen, die noch immer durch dich sprechen. Und dann entscheide dich! Ihre Wunden sind in dir. Willst du ihnen weiter in deinem Leben Raum geben? Oder wirst du dich der Angst, die von ihnen ausgeht stellen? Dann werden hinter den Fratzen der Dämonen die ungeliebten Kinder deiner Vergangenheit auftauchen und dein mitfühlender Blick wird ihnen ihre Würde und ihren Platz zurückgeben. Triff deine Entscheidung.“
Angst ist keine Mauer. Sie ist ein Tor.
Vielleicht stehst du gerade davor.
Dein Herz pocht. Deine Kehle ist eng.
Und alles in dir flüstert: „Geh nicht weiter.“
Doch was wäre, wenn du wüsstest,
dass die Angst nicht gekommen ist, um dich zu brechen –
sondern um dich zu rufen?
Sie steht an der Schwelle.
Nicht als Dämon, sondern als Hüterin.
Sie fragt dich nicht: „Bist du stark genug?“
Sie fragt: „Bist du bereit, dich zu erinnern?“
Angst erscheint oft dort,
wo deine Seele wächst,
wo alte Häute sterben
und neue Wahrheiten geboren werden.
Wenn du ihr zuhörst, ohne zu fliehen,
öffnet sie Tore, die lange verschlossen waren.
Wenn du sie umarmst, statt gegen sie zu kämpfen,
führt sie dich heim –
zu deiner Essenz, zu deiner Wahrheit,
zu deinem uralten Wissen.
Du musst sie nicht besiegen.
Du musst ihr nur die Hand reichen.
Denn hinter der Angst
wartet nicht der Abgrund –
sondern deine Tiefe.
Autor unbekannt
Landwirtschaft …
„… man geht davon aus, dass es „Experten“ mit „objektivem“ Wissen gäbe, die von anderen Menschen getrennt und ihnen überlegen seinen: den gewöhnlichen Männern und Frauen, Bauern, Arbeitern und Experten anderer Wissenstraditionen, wie etwa Ayurveda und Agrarökologie. Diese Separieren ist eine „Wissensapartheid“.
Das mechanistische Denken ist auch ein militarisiertes Denken. Es gründet sich auf Gewalt und führt zu Gewalt. Es ist seiner Natur nach gewalttätig, weil es die Natur für tot erklärt; es ist dem Wissen gegenüber gewalttätig, weil es unsere Fähigkeit zerstört, als Teil der Natur zu denken und zu handeln und gewaltfreie Mitschöpfer zu sein; es ist ökologisch gewalttätig, weil es durch seine Unwissenheit Prozesse stört, die das Leben von Organismen, Ökosystemen und der Erde selbst aufrechterhalten; es ist sozial gewalttätig, weil es blind ist für das von Bäuerinnen und Bauern und indigenen Kulturen verkörperte Wissen und es ächtet, obwohl die Welt es heute so dringend braucht, um den Planeten und die menschliche Gesellschaft zu heilen.
Das mechanistische Denken ist ein privatisierendes Denken. Es fördert die Einhegung der Gemeingüter der Natur, der sozialen Gemeingüter und des Gemeinguts unseres Wissens ebenso wie die Biopiraterie (die Nutzung bzw. Patentierung bisher frei verfügbarer biologischer Substanzen). Während es sich traditionelles Wissen aneignet, privatisiert und patentiert, errichtet das mechanische Denken eine künstliche Mauer, eine „Wertschöpfungsgrenze“. Traditionelles Wissen wird „Innovation“ und „Erfindung“ genannt und wird durch die Patentierung zu Privateigentum.“
Vandana Shiva
I
Als Euklid den Hades vermessen wollte
stellte er fest, dass es ihm an Tiefe und Höhe fehlte.
Dämonen, flacher als Felsen
wüteten auf der Ebene des Todes,
rannten mit echolosem Hundegebell
entlang der Linien von Feuer und Eis,
entlang der gezeichneten Linien des Hades.
Entlang der Linien, die zerbrachen
aber als Linien zurückkamen
ging eine Dämonenschar nach der anderen in die Breite, nacheinander und parallel durch den Hades.
Es gab keine Wellen, keine Höhen, keine Tiefen, keine Täler.
Nur Linien, parallele Verläufe, schräge Winkel.
Die Dämonen bewegten sich wie elliptische Platten;
bekleideten ein endloses Feld wie mit wandernden Drachenschuppen im Hades.
Auf eingeebneten Friedhöfen, die das Vergessen mit seiner Ebenheit verwüstet hatte
krochen Schlangen – selbst nur gröbere Linien:
eilten, krochen, gestikulierten
entlang laufender Linien.
Ein tosendes Grasfeuer in rasendem Flug
bewegte sich über den Boden wie ein Rasiermesser aus Feuer.
Es reiste auf bösen Prärien, auf bösen Steppen, flachen bösen Leeren.
hin und her, immer wieder neu entfacht
durch die Hitze der flachen Ebenen des Hades.
Harry Martinson (erster von drei Teilen des Gedichts)
Robert Bly fragt nach der Lektüre des Gedichts von Martinson, in „Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung erwachsen zu werden.“, ob wir inzwischen an einem solch flachen Ort leben. Und dort wo wir flach sind, ein flaches Verhalten zeigen? Ich frage mich, was das für mich bedeuten könnte. Was bedeutet es flach zu sein? Keine Tiefe zu haben, keine Höhe?
Als erstes fällt mir ein, etwas einfach zu übernehmen ohne es zu durchdringen, zu durchwirken. Mit meinem Blick an der Oberfläche zu bleiben. Erst wenn ich tief eintauche sehe ich, ob ein Mensch, eine Situation, ein Verhalten mich berührt. Ob ich ihn berühre. Ich kann etwas nur tief durchdringen, wenn ich es tief in mich hinein lasse. Dadurch entsteht Dreidimensionaliltät in meinem Sein. Das erreiche ich allerdings nur mit Zeit. Die vierte Dimension gibt mir die Möglichkeit genau hinzuspüren, zu prüfen, zu ertasten um was es sich handelt. Die Zeit, die ich mir gebe ist der Anker, der mich in die Tiefe gehen lässt, aus der Höhe entsteht.
Übernehme ich nur die Sichtweise anderer ohne zu prüfen, was für mich gilt, gebe es eventuell noch so weiter, werde ich flach. Ich verliere die Zeit, gebe meine Tiefe auf, damit verschwindet automatisch meine Höhe. Was bleibt ist die Zweidimensionalität von Länge und Breite. Wie Martinsons Dämonen krieche ich dann als Drachenschuppe über die Oberfläche des Hades und werde irgendwann selbst zum flachen Dämon in der Hölle. Und dann kommt das Vergessen. Meines Ursprungs, meiner Lebendigkeit, meiner Kinder. In der flachen Welt des Hades gibt es keine Kreise, keine Bögen. Alles was organisch gewunden ist, ist verschwunden. Es bleibt die Kälte von Linien, Kanten und Winkeln. Die Fläche ebnet -wie in dem Gedicht- die Gräber ein, was zu Vergessen führt. So wie Vergangenheit Tiefe ist, die in die Zukunft wirkt, ist das Grab Tiefe und Höhe, die durch das Glätten zur ebenen Fläche des Vergessens ohne Zukunft wird.
Ebenso kann ich tief in mein Leben eintauchen und die Schätze hinter den Schmerzen und Ängsten entdecken. Meine Tiefe gibt mir Kontur, Charakter, zeigt meine Ecken und Kanten, meine weichen, zarten und groben Teile. Doch es braucht Mut in einer Gesellschaft der Angst, der geschliffenen Konturen sich mit dem zu zeigen, was sich hinter den Masken der Persönlichkeit befindet. Je öfter ich etwas aus der Tiefe nach oben hole, um so klarer werde ich. In mir und für andere. Ich gewinne mit der Tiefe zeitgleich und in gleichem Ausmaß, an Höhe und Sichtbarkeit. Und ich werde lebendig. Mit Schleifen, Spiralen, Krümmungen organischen Gebilden in Fläche, Höhe, Tiefe und der Zeit.
Rituale sind Hilfen, um die Alltagswelt zu verlassen und in einem geschützten Raum Transformation zu bewirken oder sich zu transformieren.
Im Vordergrund steht der Schutz des Raumes für den Einzelnen. Manchmal wird auch das Ritual als solches geschützt. Dieser Schutz ist notwendig, da die angestrebte Transformation eine Öffnung braucht – There is a crack in everything. That’s where the light gets in! Leonard Cohen.
Damit jeder einzelne seinen Weg finden kann, braucht es Sicherheit. Sicherheit entsteht durch Wissen. So sollte für alle klar sein, wieviel Anteil an der festgelegten oder geschätzen Zeit für das Ritual vorgesehen ist und wieviel – oder ob überhaupt – für sozialen Austausch und Miteinander eingeplant wurde. Jeder sollte wissen wie das Treffen ablaufen wird, was auf ihn zukommt, vielleicht nicht detailliert inhaltlich, aber doch die Struktur. Setzen sich die Teilnehmer neu zusammen, ist es notwendig alles durchzusprechen und den Neuen zu helfen sich in den Ablauf zu integrieren.
Außerdem sollte klar sein, ob man etwas mitbringen soll oder nicht, wann gegessen wird (normalerweise nach dem Ritual. Essen versetzt in einen eher alltäglichen Zustand, da die Verdauung anläuft. Daher werden bei großen Ritualen – Schwitzhütte, Sonnentanz – vorher oft Fastenzeiten eingehalten, die es erleichtern einen heiligen Raum zu schaffen).
Bevor das Ritual beginnt, sollte es einen Übergangsbereich geben, der es den Teilnehmern erlaubt anzukommen, sich zu begrüßen und den Mantel der Alltagswelt abzulegen. Auf keinen Fall sollte getratscht werden, da Gossip jegliches Tor in nicht alltägliche Welten schließt. Über andere zu sprechen führt von uns weg. Es ist eine traumaassoziierte Überlebensstrategie, die dem auszuweichen will, was wir in uns an Schmerz und Angst finden könnten. Findet das Ritual an einem bestimmten Platz oder in einem bestimmten Raum statt, wird nicht mehr gesprochen, sobald man den Raum, den Platz betreten hat. Stattdessen konzentriert sich jeder auf sich, betritt seine innere Welt und schaut wie er heute da ist.
Die Lakota, an deren reichem rituellem Schatz ich teilhaben durfte, führen unterschiedliche kleine Rituale durch, um die Alltagswelt zu verlassen und in die übernatürliche Welt der Transformation einzutauchen.
Häufig ist es der erste Schritt für einen gewissen Zeitraum an dem Tag des Rituals zu fasten. Dann das Abräuchern mit Salbei oder Beifuß. Dadurch werden die Spirits vertrieben, die den heiligen Raum des Rituals nicht betreten sollen. Also die Alltäglichkeiten, mit denen wir außerhalb des Heiligen Raums beschäftigt sind, wie Gedanken über die Arbeit, Urteile über andere Menschen und Situationen, bestehende Konflikte, etc. All das hat seinen Platz im alltäglichen, nicht im heiligen Raum. Allerdings verändert alles, was im heiligen Raum geschieht unsere Sicht auf den Alltag und unser Leben.
Danach kann eine Schwelle überschritten werden. Jeder geht bewusst in den heiligen Raum. Nun gibt es kein Zurück mehr. Die Transformation kann beginnen.
Bei großen Ritualen, wie der Schwitzhütte, wird noch eine tiefere innere Ausrichtung verlangt. Die Schwitzhütte kann man nur betreten, wenn man bereit ist in die Verbindung mit allen und allem zu gehen. Dazu muss man in den Vierfüßlerstand, sprich symbolisch anerkennen, dass wir zum Reich der Tiere gehören und damit in die Schöpfung. Wir stehen nicht über ihr.
Nun sind wir im heiligen Raum! Auch wenn dieser Raum einerseits ein Raum an einem Ort ist, ist er doch vor allem ein Raum jenseits aller Orte. Wir haben eine andere Dimension betreten. Hier gelten nicht die gleichen physikalischen Bedingungen wie dort, wo wir herkamen. Sind wir erst einmal hier gilt folgendes:
Wir können nicht mehr zurück. Der Weg führt von nun an nur noch mitten durch das Ritual.
Wir haben die Alltagswelt hinter uns gelassen. Daher gilt, es wird nicht gesprochen. Wird etwas gesagt, hat es sofort Auswirkungen auf das Ritual und somit auch auf uns. Daher spricht erstmal nur der Ritualleiter. Dieser kann das Wort an einzelne oder alle, in einer festgelegten oder sich ergebenden Reihenfolge, erteilen. So kann zum Beispiel die Aufforderung „Lasst uns darüber sprechen“, den Raum für ein gemeinsames Gespräch öffnen.
Sind wir in der Schwitzhütte, wird wieder geräuchert. dieses Mal, um helfende Spirits zu rufen. Dazu wird zum Beispiel Süßgras genutzt. Auf unserer Ebene bedeutet dies, dass wir uns nun noch bewusster Richtung Transformation ausrichten. Wir bitten darum, dass unser Wunsch nach Transformation hier, in diesem Raum, gehört und erfüllt wird. Deshalb akzeptieren wir das Ritual.
Diese Unterwerfung fordert uns heraus. Für unser Ego mag es anfangs schwierig sei, doch die Vorteile überwiegen für die meisten, bedeutet es doch auch, die Verantwortung für die Anforderungen der Welt, für den Zeitraum des Rituals abgeben zu können. Der Übergang in die heilige Dimension entlastet uns von den Pflichten unseres erwachsenen Lebens und entführt uns in die Welt des heiligen Kindes, das spielend Zugänge zu Pflanzen, Tieren, Feen, Trollen, Hexen und magischen Momenten findet. Wir erkennen, was wir auf unserem Weg ins Erwachsenenleben geopfert haben, wo wir unsere Ganzheitlichkeit verlassen haben und was wir nun wieder integrieren können. Das heilige Kind in uns (Chuen im Mayakalender. Die Mayas vollführen kein Ritual ohne diesen Nagual der für Kind, Neubeginn, Kreativität und Schöpferkraft steht) ist der Zugang zur anderen Dimension. Dieses Portal können wir nicht außerhalb von uns finden. Es befindet sich in uns. Die Hindus kennen 72 000 Energiekanäle, in denen unsere Lebensenergie fließt. Der Zugang zu anderen Dimensionen könnte sich aber auch in jeder unserer Zellen befinden …
Ein Ritual wird vielleicht in der umgekehrten Reihenfolge beendet, in der es begonnen hat. Oder es werden Techniken angewandt, die auch schon am Beginn des Rituals standen, wie tiefes Atmen, eine leichte Meditation, wurde mit einem Tanz gegen den Uhrzeigersinn begonnen, beendet ein Tanz im Uhrzeigersinn. Wurde eine Schwelle überschritten, sollte auch am Ende wieder eine Schwelle überschritten werden. Und/oder es wird noch einmal jeder einzelne mit Rauch gereinigt.
Das Ende des Rituals ist so wichtig wie sein Einstieg. Es lässt uns wieder in unserem Alltag ankommen, führt uns zurück über die Brücke, öffnet das Portal, damit wir unsere normale Welt wieder betreten können. Dazu müssen wir die übernatürliche Welt zurücklassen und uns wieder in unseren Alltag einfinden.
Einer meiner Aufstellungslehrer beendete jede Aufstellung mit einem symbolischen Glas Wasser, das jeder „trank“. Wasser ist per se eine Substanz, die die Welten verbindet, uns somit einen leichten Übergang gewährt. Meiner Erfahrung nach hilft es auch ganz ungemein, ein echtes Glas Wasser zu trinken. Wasser spült alles ab, was nicht mehr zählt. Und da wir innerlich unterwegs waren, ist eine innerliche Reinigung angemessen. Damit bekommt der Körper auch das Signal „alle wieder an Bord, der Alltag beginnt“.
Aho! Mitakuye Oyasin!
Ich kann meine Hände verlieren und dennoch leben. Ich kann meine Beine verlieren und dennoch leben. Ich kann meine Augen verlieren und dennoch leben. Ich kann meine Haare verlieren, meine Augenbrauen, Nase, Arme und vieles andere, und dennoch lebe ich.
Aber wenn ich die Luft verliere, sterbe ich. Wenn ich die Sonne verliere, sterbe ich. Wenn ich die Erde verliere, sterbe ich. Wenn ich das Wasser verliere, sterbe ich. Wenn ich die Pflanzen und Tiere verliere, sterbe ich. Sie alle sind mehr ein Teil von mir, notwendiger für jeden meiner Atemzüge, als mein sogenannter Körper.
Was ist mein wirklicher Körper?
Jack D. Forbes, indianischer Aktivist,
Schriftsteller und Wissenschaftler, 1979
„Einmal liebend, einmal entflammt, darf man sich nicht mehr für unglücklich halten.“
Rainer Maria Rilke
Angekommen? Bist du angekommen?
Die Frage höre ich immer wieder. Seit Ende Juli 2024 bin ich in Paraguay. Ausgewandert. Nun wollen die in Deutschland zurückgebliebenen Freunde und auch Menschen, die ich hier treffe oft wissen „Bist du angekommen?“
Die Frage stelle ich mir selbst auch immer wieder. Was bedeutet es denn „angekommen“ zu sein? Meint es, hier ist alles so, wie ich es mir vorgestellt habe? Oder, habe ich mich an das angepasst, was ich hier vorfinde? Geht es darum, dass ich vor dem Ankommen, irgendwie getaumelt, geschwebt oder getorkelt bin und nun wieder fest auf dem Boden stehe? Die Kontrolle über mein Leben zurückgewonnen habe, die ich mit der Auswanderung verloren habe? Ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass ich hier mehr und mehr die Kontrolle verliere. Oder sie loslasse. Es geht weniger darum das Leben zu planen, als mich dem Leben hinzugeben.
Das beginnt mit dem Wetter. Wenn es aus Eimern kübelt und die Sandstraße Matschstraße heißt, ist der Tag geplant. Ich bleibe zu Hause. Wenn es 33 Grad und enorm schwül ist, die Moskitos mich fast auffressen, bleibe ich drinnen und die Klima läuft. Ein Gewitter ist auch nie nur ein Gewitter. Meist treffen mehrere von verschiedenen Seiten aufeinander, es blitzt in allen Himmelsrichtungen, der Wind biegt die Palmen und der Donner ist so laut, dass die Hunde sich an mich drängen. Doch meist ist es einige Stunden später auch wieder vorbei.
Paraguay nimmt dir die Kontrolle über deine Tagesplanung. Der Handwerker hat sich für Mittwoch früh angekündigt. Gegen Mittag fragst du nach wo er bleibt, spätestens Anfang der folgenden Woche telefonierst du dir die Finger wund, um einen anderen zu finden.
Nichts ist hier, das sich wirklich mit Deutschland vergleichen ließe. Zuerst rennst du dagegen an, dann weißt du nicht mehr, was du davon halten sollst, irgendwann ergibst du dich. Ja, hier ist alles anders. Du bist ja auch nicht hierher gekommen, weil du das vorfinden wolltest, was du zurück gelassen hast, oder? Du hast dich in Deutschland von Biowaren ernährt? Ja, mit sehr viel Aufwand kannst du das auch hier in einigen Regionen schaffen. Am besten dort, wo viele Deutsche wohnen. Es ist eine Frage deiner Prioritäten. Und ich verspreche dir: Die ändern sich hier! Du merkst jeden Tag etwas mehr, dass du Deutschland in dir trägst. Du willst, dass der Senf so schmeckt, wie du es kennst, die Pommes denen ähneln, die du früher gegessen hast. Du erwartest, dass ein Elektrogerät funktioniert, nur weil du es neu gekauft hast. Du wünschst dir, dass Arbeiten, schnell und in guter Qualität ausgeführt werden, eigentlich willst du doch, dass alles so ist, wie in Deutschland. Und natürlich ist die Erinnerung an Deutschland auch recht schöngemalt.
Außer den Restriktionen. Die willst du nicht. Schließlich bist du wegen deiner Freiheit hierher gekommen. Die hast du in vielen Bereichen auch. Ob du dein Haus spiralförmig oder in Form eines Zuges baust, interessiert hier niemanden. Du darfst nachts um drei laut Musik hören, wenn dir danach ist, brauchst keine Versicherung, weder Kranken noch Auto, abzuschließen. Du hast hier viele Freiheiten. Und du hast Verantwortung. Denn Verantwortung ist die Kehrseite der Freiheit.
Du trägst hier die Verantwortung für dich. Niemand übernimmt es sonst. Paraguay wirft dich auf dich zurück. Du hast eine Grenze überschritten, deine Komfortzone verlassen, bist auf Abenteuer gegangen, hast das Labyrinth betreten … Dahinter kannst du nicht zurück. Es geht nur nach vorne weiter. Schritt für Schritt spürst du deiner Intuition nach, horchst auf dieses feine Stimmchen, dass sich schon so oft gemeldet und dir zugeflüstert hat. Es hat von loslassen, von Vertrauen ins Leben, von Liebe und Zulassen gesprochen. Vielleicht hast du anfangs versucht es verstummen zu lassen. Hast mehr Kaffee getrunken, Alkohol versucht, Dinge gegessen, die du eigentlich nicht mehr isst. Hast dir eine neue Philosophie zurecht gelegt. Und all das hat der Idee gedient, die Kontrolle über dein Leben aufrecht zu erhalten. Wenn du vor lauter Kaffee deinen Schlaf verloren hast, der Alkohol für Kopfweh gesorgt hat und dein Darm sich rüde gegen Fett, Weißmehl und Zucker wehrt hast du eine Chance hinzuspüren. Manche machen weiter. Ihr Alkoholkonsum steigt, die deutsche Bäckerei hat einen Rekordumsatz an Kaffestückchen. Andere werden zynisch, tratschen und jammern. Wieder andere schimpfen endlos auf Land und Leute, mäkeln am Essen, am Wetter, an allem was sie umgibt … Tja, mit all dem kann man sich wunderbar davon abhalten Verantwortung zu übernehmen. Entscheidungen zu treffen. Das Leben in die Hand zu nehmen, loszugehen und zu handeln. Und ja, zu viel handeln ist auch eine wunderbare Abwehrstrategie.
Letztendlich hilft nur Bewusstheit. Sich selbst durchschauen, die eigenen Muster und Programme erkennen, Gedanken, Worte, Handlungen reflektieren. Was tue ich hier? Was tue ich hier wirklich, wirklich? Wieso diese Gedanken? Wieso diese Worte? Wieso diese Emotionen, die ich unterdrücke oder auslebe? Was sagt mir das über mich?
So, jetzt nähere ich mich wieder der Idee des „Ankommens“. Ankommen kann ich immer nur bei mir. Irgendwo wegzugehen, wo ich dachte ich sei angekommen, kann sehr hilfreich dabei sein. Vorher habe ich Halt (ankommen) vor allem im außen gesucht. Meiner Familie, meinen Freunden, meinem Land, meiner Heimat, vielleicht meinem Beruf. Wenn all das wegfällt, habe ich nur noch mich. Und bei mir anzukommen ist die eigentliche Kunst. Es geht um Glaubenssätze, die wir mit uns tragen, um die herum wir uns eine Identität aufgebaut haben. Vor vielen Jahren habe ich in einem Buch zum Zen-Buddhismus gelesen. Der Autor besuchte ein einjähriges Retreat. In dem Jahr starb sein Bruder. Ihm wurde nicht erlaubt das Retreat zur Beerdigung zu verlassen. Natürlich hätte er jederzeit gehen können, es lag in seiner Verantwortung. Doch er hatte dazu nicht die Zustimmung seines Lehrers. Damals hat mich die Geschichte schockiert. Ich konnte es weder verstehen noch nachvollziehen. Heute ist mir klar, es ging darum, die hinter dem Handeln liegenden Glaubenssätze zu verstören. Nur wenn wir bereit sind unsere kulturellen Vorstellungen und Ideen zu hinterfragen, können wir den Punkt der Entscheidung erreichen. Nur dann ist es möglich Verantwortung für unseren nächsten Schritt zu übernehmen. Gefangen in unhinterfragt übernommenen Glaubenssätzen und Mustern ist wirkliche Freiheit nicht möglich.
Manche klammern sich hier an genau diese Muster. Andere werden religiös, suchen nach einem neuen Glaubenssystem, das ihnen Halt gibt. Oder wie eine Bekannte sagte: „Jeder hat sein eigenes Gefängnis!“
Die Kelten erkannten, dass die Gestalt jeder Seele einmalig ist und dass das spirituelle Gewand, das der eine Mensch trägt, niemals der Seele eines anderen passen kann. Interessanterweise bedeutet das lateinische Wort für „Offenbarung“, revelatio, wörtlich so viel wie „Wieder-Verschleierung“. Die Welt der Seele lässt sich nur flüchtig erblicken, wie durch einen Spalt in einem Schleier, der sich sofort wieder schließt. Es gibt keinen direkten, ständigen oder allgemeinen Zugang zum Göttlichen. Jedes Schicksal besitzt seine eigentümliche Kontur, seine eigene Linie, die ihre spezifische spirituelle Zugehörigkeit und Ausrichtung finden muss. Die Individualität ist der einzige Zugang zu unserem spirituellen Potenzial und zu dessen Erfüllung.
Wenn die spirituelle Suche zu leidenschaftlilch und verbissen betrieben wird, bleibt die Seele versteckt. Es ist der Seele nie bestimmt gewesen, vollkommen erschaut zu werden. Die Seele fühlt sich eher in einem Licht zu Hause, das auch den Schatten gastfreundlich aufnimmt. Von freundlicher Zutraulichkeit gegenüber der Dunkelheit, öffnet es sanft Höhlen in der Finsternis und verleitet die Vorstellungskraft dazu aktiv zu werden. Die Kerze gestattet es dem Dunkel, seine Geheimnisse zu wahren. In jeder Kerzenflamme finden sich ein Schatten und mehrere Farben. Kerzenlicht-Bewusstsein ist die respektvollste und angemessenste Form von Licht, unter dessen Führung wir uns der inneren Welt annähern können. Es versucht nicht, dem Geheimnis unsere qualvoll schattenlose Bewusstheit aufzuzwingen. Der Flüchtige, ahnende Blick ist genug. Die Kerzenlicht-Wahrnehmung naht sich dem Mysterium und der Autonomie der Seele mit der erforderlichen Rücksicht und Ehrfurcht. Eine Solche Wahrnehmung ist an der Schwelle daheim. Weder braucht sie, noch wünscht sie, in den geheiligten Bezirk einzudringen, in dem das Göttliche wohnt. Heutzutage verwenden wir die Sprache der Psychologie, um uns der Seele anzunähern. Die Psychologie ist eine wunderbare Wissenschaft. In vielerlei Hinsicht war sie ein Entdeckerin, die in heldenhaften Abenteuern die unbekannte innere Welt erforschte. In unserer Kultur der Unmittelbarkeit hat die Psychologie die Fruchtbarkeit des und die Ehrfurcht vor dem Mythos verbannt. Sie steht unter dem Druck des Neon-Bewusstseins, und ist damit außerstande, die Tiefe und Fülle der Welt der Seele zu erschließen oder zu bergen. Eine wichtige Einsicht, die wir der keltischen Mystik verdanken, ist die Erkenntnis, dass wir weniger danach streben sollten, unsere Seele offenzulegen oder ihr unsere schwache Hilfe anzubieten, als viel mehr unserer Seele zu gestatten, uns zu finden und für uns zu sorgen. Die keltische Mystik ist zärtlich zu den Sinnen und bar aller spirituellen Aggressivität. Die Geschichten, Gedichte und Gebete der Kelten sind Ausdrucksformen einer offensichtlich prä-logischen Sprache – eines Idioms der lyrischen ehrerbietigen Beobachtung. Oftmals erinnert diese Sprache an die Reinheit japanischer Haikus. Sie umgeht die knorrige Kompliziertheit narzisstischer selbstbezüglicher Rede und erschafft klare Wortgestalten, die die numinosen Tiefen der Natur und des Göttlichen ungehindert hindurchschimmern lassen. Die keltische Spiritualität erkennt die Weisheit und das sanfte LIcht, die unser Leben behüten und vertiefen können. Wenn unsere Seele erwacht, regt sich der schöpferische Drang unseres Schicksals.
John O´Donohue
Spiegelungen weisen uns den Weg zu unserer Seele, zu unserer Weisheit. Sie zeigen uns auch die Welten, die ineinander greifen und die Spalten, die sich dabei ergeben. In diesen Öffnungen können wir unser wirkliches Leben finden. Antworten auf die Fragen, die nie gestellt wurden. Fragen, die nur als dunkle Schleier durch unser Wesen ziehen. Nicht greifbar, nicht sichtbar. Fragen, die Stränge von Emotionen in uns in Schwingung bringen und uns verwirrt, traurig, panisch, wütend oder zutiefst verzweifelt aus der Nacht in den Tag entlassen. Sie bewusst wahrzunehmen und die darin liegende Würde zu erkennen, gibt diesen Anteilen in uns ihre Größe zurück.