Schweißgebadet erwacht … voller Angst … ich habe es gestern verkackt … es dockt an meine frühe Grundschulzeit an … damals war ich so oft in dem Gefühl nicht richtig zu sein. Nicht richtig in der Welt. Ein unbestimmtes Gefühl hier vollkommen falsch zu sein, nicht hierher zu gehören. Heute weiß ich, dass viele früh traumatisierte Menschen dieses Gefühl des „Falsch-Seins“ kennen. Sie haben mich in Stufen gebrochen. Zuerst der 4-Stunden-Rhythmus im Hebammenhaus, direkt nach der Geburt. Nach jedem Stillen wieder weit weg von meiner Mutter in einem harten, unbeweglichen Bett, mit kratzigem an der Haut, wo ich doch eigentlich die Haut meiner Mutter spüren sollte. Meine Haut, die bis eben noch nicht wirklich vorhanden war. Die ein Teil des Kind-Mutter-Körpers, des Nichtgetrennten, der Einheit war … keine Grenze, keine Identität, nur ein gemeinsamer Atem, ein Puls, ein Herzschlag. Sie war ich, ich sie. Nun ist sie weg. Ich weine mir das Herz und die Seele aus dem Leib. Doch niemand kommt. Kein Erbarmen. Dann war ich still. Alle geben irgendwann auf. Heute wissen wir, dass Kinder schon im Mutterleib ein Bewusstsein für sich und ihre Umgebung haben. Ebenso Erinnerungen. Danach gefragt, können Vor- und Grundschulkinder von Erlebnissen vor ihrer Geburt, der Geburt selbst und aus der Zeit vor ihrer Sprachentwicklung berichten. Mit 4 Jahren musste ich erstmals zum Zahnarzt. Er war der sprichwörtliche Sadist. Kinder gab es in seiner Welt nicht. Er war grob. Tat mir weh. Verletzte mich im Mund. Mit seinen Fingern, seinen Instrumenten. Nach den Arztbesuchen hatte ich Risse in den Mundwinkeln, oft blutete mein Zahnfleisch. Ich wehrte mich. Auf meine kleine, kindlich Weise. Ich fing zu Hause an zu weinen, zu schreien. Ich schrie bis ich auf seinem Stuhl saß. Einmal biß ich ihn, als er mir weh tat, das machte es in der Folge nicht besser. Mit 6 Jahren war einer meiner Zähne vereitert. Er zog ihn. Trotzdem. Dann war ich krank. Sehr lange und ausführlich. Der Eiter war in mein Blut gelangt. Meine Leukozyten schossen ins Unermessliche. Sie hatten Angst, dass ich eine Leukämie entwickele. Ich war 6 Jahre, konnte nicht mehr zur Schule gehen. Die ersten zwei Jahre danach musste ich wöchentlich zum Arzt, mein Finger wurde angestochen, Blut in eine Röhre gesaugt und die Werte überprüft. Ich hatte Angst davor, habe es gehasst, gefürchtet. Doch das war nicht alles, was den Ärzten einfiel … Die Krankheit hatte mich Kraft gekostet. Ich war sehr schmal, bleich und durchscheinender als früher. Der eigentlich nette Hausarzt kam auf die vernichtende Idee mich „in die Kur zu schicken“. Heute kennt das niemand mehr. Es war eine in den 50er bis in die 80er Jahre praktizierte Methode. Kinder wurden alleine, ohne Eltern, mit der Bahn zu weit entlegenen Häusern geschickt. Dort waren sie dem Wohl und Wehe der Menschen, die dort arbeiteten ausgeliefert. Wer sich mit diesem dunklen und vielen unbekannten Teil unserer jüngeren Geschichte beschäftigen möchte, findet unter den Stichworten „Verschickungskinder“ oder „Kinderheime“ seit 2019 informative Seiten im Netz. Viele Kinder erlitten emotionale, körperliche und sexuelle Gewalt. In manchen Häusern wurden Medikamentenversuche durchgeführt. Sie wurden teilweise gefoltert (Ja. Gefoltert!), es wurde versucht sie bewusst und mit Absicht zu brechen. Es verwundert dann kaum noch, zu lesen, dass einige der Ärzte, die die Häuser führten, Berühmtheiten mit Nazi-Vergangenheit waren. Ich landete in Berchtesgaden. Im Unterschied zu anderen, kann ich mich gut an die Zeit erinnern. Es war schrecklich. Ich erlebte, wie ich und andere, um mich herum, körperlich und seelisch misshandelt wurden. Die „Kur“ dauerte sechs Wochen. Gegen Ende brachen die Röteln aus. Am vorletzten Tag traf es mich. Sie sagten mir, wenn ich am nächsten Tag nicht gesund sei, müsse ich weitere sechs Wochen bleiben. Es gäbe nur alle sechs Wochen einen Zug … Ich war am nächsten Tag gesund. Kaum zu Hause breiteten sich die roten Flecken wieder über meinen gesamten Körper aus. Und ja, ich war danach eine andere. Ich aß nicht mehr, was ich vorher gemocht hatte. Ich hatte das unbewusste Gefühl nicht in Ordnung zu sein. Nicht richtig zu sein. Mein Selbstbewusstsein hatte großen Schaden erlitten. Ich fühlte mich alleine. Verlassen. Es fiel mir schwer offen für mich einzustehen. Ich entwickelte soziale Ängste. “Autoritäten“ schreckten mich. Ein Teil von mir war in den Untergrund gegangen und es dauerte lange bis er ans Licht zurück fand. Und nun zeigt sich das alles nochmals. Was war dem vorausgegangen? Am Anfang war ein Arzttermin, der für mich sehr wichtig war. Wichtiger, als ich zu dem Zeitpunkt ermaß und bei dem ich verschiedenes falsch verstand. Dazu kam ein Telefonat mit einer Freundin, die davon sprach, dass gerade Ungeheiltes wieder an die Oberfläche kommt, sich nochmals zeigt, um dann zu gehen. Eigentlich ging es dabei um die alte deutsche Angst vor „dem Russen“, die jetzt bei Menschen, die den zweiten Weltkrieg erlebten, aber auch bei jüngeren, die transgenerational davon betroffen sind, wieder auftaucht. Zu diesen beiden Elementen gesellte sich ein Lied. „Nein, meine Söhne geb ich nicht“, von Reinhard Mey und Freunden. Es kam ganz unerwartet zu mir und ich hörte es wieder und wieder, während mir die Tränen übers Gesicht liefen. Die Stimmen der Männer und Frauen, die für ihre Kinder einstanden, sich als Eltern zwischen ihre Kinder und die Willkür von Staat und Behörden stellten, brachte etwas in mir in Fluss. In mehrere Richtungen. Hin zu meinem Sohn und tief in mein Inneres. Etwas wurde weich, löste sich auf, wollte und will gehen. In der Tiefe heilen. Einen Platz in meiner Erinnerung einnehmen, der ruhig, heilsam und haltend ist. Aber noch war es nicht so weit. Das Adjuvans fehlte noch. Das kam, als mein Arzt am späten Nachmittag anrief: Ich hatte den sehr wichtigen Termin verpasst und wusste in dem Moment nicht, ob ich einen weiteren bekommen könnte. Es fuhr mir in den Magen. Mir war übel und zum heulen zumute. So hatte ich mich schon sehr lange nicht mehr gefühlt. Dieser Schreck rauhte alle Verkrustungen auf, die noch über den alten traumatischen Erfahrungen lagen, öffnete sie, um die abschließende Heilung einzuleiten. Ja, da bin ich nun. Gebrochen und nun heil(end). Mit Erinnerungen, die ihren Platz gefunden haben im Kaleidoskop des Lebens. Die letzten Tage waren schrecklich schön. Da ist noch ein Rest Wehmut über die lange Zeit der Heilung. Aber auch ein Wissen, dass unsere Erfahrungen uns zu der machen, die wir sind. „There is a crack in everything“, wie Leonard Cohen sang. „That‘s how the light gets in“.
Heute haben wir Neumond. Zeit für einen Neubeginn. Zeit nach vorne zu schauen und loszugehen.
Zeit, dass wir unser Opfer-Sein beenden. Keine weiteren Videos schauen, die, in einem anderen Kleid, uns wieder und wieder zeigen wie böse die Welt da draußen ist, wie ungerecht und welche bösen Menschen all das geplant und gewollt haben.
Es wird Zeit zu erkennen, dass wir und nur wir, unser Leben gestalten. Dazu ist es wichtig die inneren Strategien zu erkunden, unsere tief eingeschliffenen Muster zu erkennen und uns einzugestehen, dass wir oft nur eines wollen, nämlich Kontrolle.
Und genau die, gilt es loszulassen.
Das haben wir doch schon so oft gehört: Lass es los! Ja prima. Gute Idee. Aber wie, bitteschön, geht das? Wie lasse ich etwas los, das mir so vertraut ist, wie meine Haut, meine Haare, mein Gesicht? Wie lasse ich los, was mir so gute Dienste geleistet hat? Als Kind hat es mir das Überleben gesichert. Immer wenn meine Kontrolle größer wurde, wurde ich geliebt: Wenn ich Dinge gezielt greifen konnte, als ich nicht mehr in die Hosen machte, wenn ich kluge Sprüche von mir gab, von denen ich wusste, dass meine Erwachsenen sie bejahen. Wenn ich ruhig sitzen konnte und nur dann sprach, wenn es erlaubt war – eben nicht während des Unterrichts! Geliebt wurde ich meist nur, wenn ich meine Bedürfnisse zu Gunsten der Bedürfnisse oder der jeweiligen Wertvorstellungen anderer oder der Gesellschaft aufgab.
Und ja, wir alle haben Bedürfnisse aufgegeben. Wir haben sie ersetzt durch fremde Ideen wie wir sein und uns verhalten sollen. Das kleine Mädchen, der kleine Junge, die wir mal waren, haben sich selbst gebogen und geformt und ausgerichtet, nach den Prinzipien, die Liebe und Nähe und Verbindung versprachen.
Wie können wir diese Prinzipien loslassen? Das funktioniert nur über Bewusstwerdung. Sprich, um eingefahrene Muster zu verlassen, müssen wir zuerst erkennen, dass wir sie haben. Das geschieht über Beobachtung unseres Verhaltens und anfangs oft nur im Nachhinein. Hinweise darauf, dass ich in meinen Strategien gehandelt habe, geben mir zum Beispiel meine Gefühle. Sind sie angemessen? Oder passen sie nicht zur aktuellen Situation? Beschäftigt mich eine Situation noch, nachdem sie schon längst vorüber ist?
Immer dann, wenn ich ein ungutes Gefühl spüre, treffen in meinem Inneren zwei Werte aufeinander. Ich treffe zum Beispiel jemanden und fühle mich unsicher. Da stehen sich innere Anteile von gemocht werden und mein ursprüngliches Bedürfnis, einfach ich zu sein, gegenüber. In der unbewussten Kontrolle wird sich vielleicht mein Atem verändern, mein Muskeltonus, mein Stoffwechsel, etc.
Spüre ich meinen Körper, können solche Veränderungen ein guter Einstieg sein. Ich nehme wahr und gebe dem Körpergefühl in mir Raum. Oder ich nehme auch auf der kognitiven Ebene wahr und erkenne die inneren Erwartungen. Vielleicht fällt mir sogar eine dahinter stehende Situation ein. Dieses Wahrnehmen bringt mich an einen Punkt der Nicht-Reaktion und damit aus dem Muster heraus. Dies ist der Platz, um Entscheidungen zu treffen. Wie möchte ich mich verhalten? In welche Strategie gehe ich? Mache ich mich weiter klein? Oder zeige ich wie toll, wie taff oder was für ein Überflieger ich bin, wie ich funkeln und strahlen kann? Oder wie mitfühlend und empathisch ich doch bin? All das gehört zu den Schubladen, die wir uns im Laufe unseres Lebens geschaffen haben, um die Kontrolle zu behalten und uns sicher zu fühlen.
Oder wage ich etwas ganz neues und zeige mich genauso, wie ich jetzt bin? Vielleicht spreche ich aus, wie ich mich fühle. Oder welche Erwartungen ich innerlich an mich, oder auch an mein Gegenüber habe. Das bedeutet loslassen. Es ist nichts Großes. Es sind die vielen kleinen Entscheidungen, die ich tagtäglich treffe.
Die Frage ist, will ich weiter in Strategien leben oder will ich mein Leben wagen?
Aus dem Loslassen entsteht Raum. Raum für Lebendigkeit, für neue Erfahrungen. Raum, den ich benötige, damit meine Ängste sich zeigen können. Raum, um eine innere Ruhe zu erleben, die es mir möglich macht, ein, zwei Schritte zurück zu treten und mich umzuschauen. Und natürlich auch Raum, um zu erfahren, was ich denn möchte. Was sind meine Bedürfnisse, genau jetzt in diesem Moment? Was hält mich davon ab sie zu äußern, zu leben?
Dann zeigt sich unser Weg. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass jeder und jede von uns weiß, wie wir sein und leben möchten. Welche Werte wir verkörpern möchten, welchem Stern wir folgen möchten. Die Hinduisten nennen es Dharma. Die göttliche, unveränderliche Ordnung, die sich in unserem individuellen Lebensweg widerspiegelt. Und sie sagen, es sei ein Zeichen, dass wir auf dem Weg unseres Dharma sind, wenn es sich ein wenig riskant anfühle.
Unser Leben liegt nicht in der Sicherheit. Es liegt in der Freiheit unserem Herzen zu folgen. Das ins Leben zu bringen, was nur wir in die Welt bringen können. Dann lassen wir unser Licht strahlen und nehmen den Platz ein, der unser Platz ist. Und dies kann nicht geschehen, wenn wir kontrollieren wollen. Kontrolle ist das Gegenteil von Vertrauen. Dem Vertrauen, dass wir alles was kommt, wirklich alles, werden händeln können.
Welchen Weg wählen wir? Welchen Neubeginn wollen wir? Im Moment ist eine gute Zeit für einen neuen Start. Aber wir müssen uns dafür entscheiden. Die Dinge einfach laufen zu lassen, unser Opfer-Sein zu kultivieren, kostet Kraft. Wir entscheiden, was wir nähren. Nähren wir die alte Wunde oder setzen wir uns für neue Werte, für Kontakt aus dem Herzen, für liebende Beziehungen und eine Welt mit wenig Kontrolle ein? Wie möchten wir leben? Wie sollen unsere Kinder und Enkel aufwachsen?
Oder wie meine Freundin Claudia zu sagen pflegte “Entscheide dich oder für dich wird entschieden!“.
Vai. E, se der medo, vai com medo mesmo. Gehe. Und wenn du Angst hast, gehe in Angst. Brasilien
wann geraten wir endlich aus der fassung … ?
Kann mir einer sagen, wohin ich mit meinem Leben reiche? Ob ich nicht noch im Sturme streiche und als Welle wohne im Teiche, und ob ich nicht selbst noch die blasse, bleiche frühlingsfrierende Birke bin? Rainer Maria Rilke
Ein Lied aus der Nacht
Eine fast schlaflose Nacht. Unser Austausch in der Tempelgruppe gestern. Der Schock sitzt tief in meinen Eingeweiden. Wo sollte er auch sonst sitzen, außer dort, wo ich eingeweiht bin. Mich selbst eingeweiht habe. In zwei langen Jahren. Zwei Jahre sind es schon. Zwei Jahre voller Hoffen und Bangen. Zwei Jahre, in denen die Engel der Veränderung über die Erde ziehen. Zwei Jahre des erzwungenen intensiven Lernens. Zwei Jahre tiefer Einblicke in Bereiche, von denen ich nicht wusste, dass sie existieren. Und es eigentlich auch nicht wissen wollte. Zwei Jahre Ent-Täuschung. Enttäuschung, die tiefer geht und größer ist, als ich es mir je hätte vorstellen können. Zwei Jahre, in denen ich neue Informationen aufnahm, prüfte, wieder verwarf, die Essenz daraus eliminierte, mich vertraut machte, in die Welt hinaus rief, zum Schweigen gebracht wurde, neue Wege suchte, mich selbst zum Schweigen brachte, mitnehmen wollte, gegen Mauern rannte, in Dornengebüsch fiel, mir Hände und Gesicht zerkratzte …
… Freunde verlor …
… zuerst nur in der inneren Wahrnehmung, der ich nicht glauben wollte, in die ich mich flüchtete, wieder verstieß, mich daran festhielt, heulend, schreiend, nicht fühlen, nicht spüren, nicht seien wollend. Um dann aufzugeben. Nachzulassen. Mich auf meinen Knien wiederfindend. Gewaschen, gespült, geschleudert.
Ausgewrungen.
Wer bin ich? Nicht mehr die, die ich mal war.
Das gehört so. Das ist normal. Change is a constant process, stability is an illusion. Seit 20 Jahren begleitet mich dieser Ausspruch von Insoo Kim Berg. Nie erschien er mir so wahr wie in dieser Zeit der Wirrungen und Weigerungen. Der unglaublichen Auswirkungen.
Die Engel der Veränderung ziehen über das Land.
Die Kluft ist so groß. Ich kann sie nicht mehr überbrücken. Ich sehe sie und inzwischen achte ich sie. Ist sie doch nicht nur Ausdruck unseres Auseinanderdriftens, sondern auch tiefe Achtung für meinen bisherigen Weg. Ihr geht eueren Weg, ich meinen. Haben wir diese Wege gewählt? Eine Frage, die ich nicht beantworten kann; oder möchte ich es nicht?
Du stehst dort drüben, ich hier. Du wirkst klein, so weit von mir entfernt. Mein Herz ist warm und offen. Meine Liebe begleitet dich auf deinem Weg. Ich akzeptiere, dass es für dich die gleiche Anstrengung wäre diese tiefe Schlucht zu überwinden, wie für mich.
Ich akzeptiere, dass die Schlucht, hier, an dieser Stelle, nicht überwunden werden kann.
Ich ehre die Schlucht zwischen uns.
Ich verbeuge mich tief.
Dezember 2021
Wenn ich an den Freitagnachmittagen nach der Schule zu meinem Großvater zu Besuch kam, dann war in der Küche seines Hauses bereits der Tisch zum Teetrinken gedeckt. Mein Großvater hatte seine eigene Art, Tee zu servieren. Es gab bei ihm keine Teetassen, Untertassen oder Schalen mit Zuckerstückchen oder Honig. Er füllte Teegläser direkt aus einem silbernen Samowar. Man musste zuerst einen Teelöffel in das Glas stellen, denn sonst hätte das dünne Glas zerspringen können. Mein Großvater trank seinen Tee auch nicht so, wie es die Eltern meiner Freunde taten. Er nahm immer ein Stück Zucker zwischen die Zähne und trank dann den ungesüßten heißen Tee aus dem Glas. Und ich machte es wie er. Diese Art, Tee zu trinken, gefiel mir viel besser als die Art, auf die ich meinen Tee zu Hause trinken musste. Wenn wir unseren Tee ausgetrunken hatten, stellte mein Großvater stets zwei Kerzen auf den Tisch und zündete sie an. Dann wechselte er auf Hebräisch einige Worte mit Gott. Manchmal sprach er diese Worte laut aus, aber meist schloss er einfach die Augen und schwieg. Dann wusste ich, dass er in seinem Herzen mit Gott sprach. Ich saß da und wartete geduldig, denn ich wusste, jetzt würde gleich der beste Teil der Woche kommen. Wenn Großvater damit fertig war, mit Gott zu sprechen, dann wandte er sich mir zu und sagte: „Komm her, Neshumele." Ich baute mich dann vor ihm auf, und er legte mir sanft die Hände auf den Scheitel. Dann begann er stets, Gott dafür zu danken, dass es mich gab und dass er ihn zum Großvater gemacht hatte. Er sprach dann immer irgendwelche Dinge an, mit denen ich mich im Verlauf der Woche herumgeschlagen hatte, und erzählte Gott etwas Echtes über mich. Jede Woche wartete ich bereits darauf, zu erfahren, was es diesmal sein würde. Wenn ich während der Woche irgend etwas angestellt hatte, dann lobte er meine Ehrlichkeit, darüber die Wahrheit gesagt zu haben. Wenn mir etwas misslungen war, dann brachte er seine Anerkennung darüber zum Ausdruck, wie sehr ich mich bemüht hatte. Wenn ich auch nur kurze Zeit ohne das Licht meiner Nachttischlampe geschlafen hatte, dann pries er meine Tapferkeit, im Dunkeln zu schlafen. Und dann gab er mir seinen Segen und bat die Frauen aus ferner Vergangenheit, die ich aus seinen Geschichten kannte - Sara, Rahel, Rebekka und Lea -, auf mich aufzupassen. Diese kurzen Momente waren in meiner ganzen Woche die einzige Zeit, in der ich mich völlig sicher und in Frieden fühlte. In meiner Familie von Ärzten und Krankenschwestern rang man unablässig darum, noch mehr zu lernen und noch mehr zu sein. Da gab es offenbar immer noch etwas mehr, das man wissen musste. Es war nie genug. Wenn ich nach einer Klassenarbeit mit einem Ergebnis von 98 von 100 Punkten nach Hause kam, dann fragte mein Vater: „Und was ist mit den restlichen zwei Punkten?" Während meiner gesamten Kindheit rannte ich unablässig diesen zwei Punkten hinterher. Aber mein Großvater scherte sich nicht um solche Dinge. Für ihn war mein Dasein allein schon genug. Und wenn ich bei ihm war, dann wusste ich irgendwie, mit absoluter Sicherheit, dass er Recht hatte. Mein Großvater starb, als ich sieben Jahre alt war. Ich hatte bis dahin nie in einer Welt gelebt, in der es ihn nicht gab, und es war schwer für mich, ohne ihn zu leben. Er hatte mich auf eine Weise angesehen, wie es sonst niemand tat, und er hatte mich bei einem ganz besonderen Namen genannt - "Neshumele", was "geliebte kleine Seele" bedeutet. Jetzt war niemand mehr da, der mich so nannte. Zuerst hatte ich Angst, dass ich, wenn er mich nicht mehr sehen und Gott erzählen würde, wer ich war, einfach verschwinden würde. Aber mit der Zeit begann ich zu begreifen, dass ich auf irgendeine geheimnisvolle Weise gelernt hatte, mich durch seine Augen zu sehen. Und dass einmal gesegnet worden zu sein heißt, für immer gesegnet zu sein. Viele Jahre später, als meine Mutter im hohen Alter überraschenderweise begann, selbst Kerzen anzuzünden und mit Gott zu sprechen, erzählte ich ihr von diesen Segnungen und was sie mir bedeutet hatten. Da lächelte sie traurig und sagte zu mir: „Ich habe dich an jedem Tag deines Lebens gesegnet, Rachel. Ich habe nur nicht die Weisheit besessen, es laut auszusprechen.“ Rachel Naomi Remen
Wo will ich hin? Welche Entscheidungen soll ich treffen?
Ich sehe keine Veränderungen, nur Oberflächengekräusel.
Was ich sehe? Dass sie die Leine mal kürzer, mal länger lassen. Dass mit großem Hin und Her versucht wird, uns zu verwirren. Dass uns Karotten vor die Nase gehängt werden, denen wir nachjagen sollen. Dass Ängste geschürt werden. Dass Familien gespalten werden. Dass Freundschaften zerbrechen. Dass die meisten Menschen, die ich kenne und treffe, einen hohen Stresslevel haben.
Drei Schritte vor, zwei zurück, Ausfallschritt, einen zur Seite … Ein Tanz ohne feste Schrittfolge. Zu einer Musik, die Rhythmus und Melodie ändert. Unter allem ein tiefer Bass, der Unheil verkündet.
Ja, natürlich ist es richtig: da beschreibt ein Mainstreamjournalist tatsächlich mal die Realität. Da macht ein Politiker den Wendehals und fordert das Gegenteil von dem, was er zuvor wollte. Da tun sich ein paar Ärzte oder Juristen zusammen und verfassen einen öffentlichen Brief. Mainstreamsender greifen Themen auf, die sie zuvor als Fake und unsolidarisch bezeichnet haben.
Tatsächlich kann ich das nicht mehr ernst nehmen. In meinem Erleben geht das seit Beginn der Krise so. Und sogar, wenn ich die Inhalte ernst nähme, die selbsternannten Verkünder von „der anderen Seite“ kann ich nur mit tiefem Misstrauen betrachten. So „leichtgläubig“ ich bis 2020 unserer Politik gegenüber war, aktuell gibt es nichts mehr, was ich einfach so glaube und hinnehme. Zwei Jahre lang wurde die Realität verdreht, die Wahrheit verbogen, wurden Menschen belogen, weggesperrt, geängstigt, körperlich verletzt, getötet …
Es gibt nichts, das aus dieser Ecke kommt und mir auch nur ein Quentschen Vertrauen vermitteln könnte. Ich glaube nicht daran, dass Änderung geschieht ohne Aufdeckung, Eingeständnis, Reue und Leid über schreckliche Fehler, die gemacht wurden.
Menschen ändern sich nicht ohne Betroffenheit. Bewusst gespürte Betroffenheit.
Das wäre Veränderung in der Tiefe. Aus der Tiefe heraus.
All das sehe ich nicht.
Nur Oberflächengekräusel.
Das gilt auch für uns. Es ist wichtig, die Realität wahrzunehmen. Genau hinzuschauen. Was sehe ich? Was nehme ich wahr? Was möchte ich sehen? Was möchte ich nicht sehen? Und ja, deine Realität ist eine andere als meine. Unsere Realitäten sind gefärbt durch unsere Filter, unsere Erfahrungen, unser gelebtes Leben. Und das ist wunderbar so. Es schafft Diversität.
Wenn wir uns unserer Realität nicht stellen, wenn wir glauben bestimmte Muster nicht mehr aushalten, ertragen zu können, wenn wir etwas so sehr wünschen, dass wir Macht ausüben, um es herbei zu zwingen, dann ist das Macht gegen uns, oft auch gegen andere. Wir wiederholen, was uns angetan wurde.
Stattdessen könnten wir, zuerst vielleicht nur eine Zehenspitze, in den Strom des Lebens tauchen. Wir könnten austesten, wie es sich anfühlt, unsere sicheren Muster zu verlassen und uns dem Leben anzuvertrauen. Wir könnten unseren Wunsch nach Sicherheit, unsere Angst vor Ausgrenzung wahrnehmen. Und uns einlassen. Ausprobieren wie es sich anfühlt einen Schritt in die Freiheit zu tun. Die Freiheit in der Gegenwart zu sein und offen auf das zu reagieren, was sich zeigt.
Ja, die Muster und Strategien haben uns Dienste geleistet. Als wir klein waren, haben sie uns geschützt und wir haben vielleicht nicht gemerkt, dass wir diese alten Kleider immer noch tragen. Haben uns an die Spannung über der Brust gewöhnt, der Druck auf der Hüfte ist uns so vertraut, dass wir glauben, er gehöre zu uns.
Das alles gehört zu unseren Realitäten. Wir können nur ändern, was wir bewusst wahrnehmen. Die bewusste Wahrnehmung führt uns zu dem Punkt, an dem wir eine Entscheidung treffen können. Ohne diesen Punkt, diese Unterbrechung, rutschen wir in alte Muster und handeln in vorgeformter Weise. Wir verpassen die Gegenwart. Den einzigen Moment, an dem das Leben sich entfalten kann, an dem wir leben können.
Lasst uns wild und frei und ungezähmt in eine offene und weite Zukunft gehen. Wir sind hier, um das Instrument der Freiheit zu spielen. Ganz und gar und im Moment und aus der Tiefe unseres Seins.