Ich nähere mich dem Punkt aus der Luft. Von oben. Wie ein Adler sehe ich tief unter mir die Hochebene, die quer durch einen Abgrund unterbrochen wird. Beim Näherkommen erkenne ich die Felsen auf beiden Seiten des Bruches und ermesse erst jetzt wie breit er ist. An einer Stelle ist eine Slackline gespannt, auf der eine Frau balanciert. Inzwischen bin ich nur noch wenige Meter über ihr und erkenne mich selbst.
Ich balanciere da. Über einem Abgrund dessen Tiefe ich nicht ermessen kann. Von dem Punkt, auf dem ich auf der Line stehe, kann ich weder ihren Anfang noch ihr Ende erkennen. Sie schwingt sich über diese Tiefe und ich kann auch nicht mehr sagen von welcher Seite ich losgegangen bin. Was ich jedoch noch weiß, ist dass die Slackline, als ich losging, eine ganz normale Slackline war. Ich musste auf ihr balancieren, meine gesamte Energie in meine Füße fließen lassen und diese Verbindung zwischen ihr und mir wahrnehmen. Da wo ich jetzt stehe, ist die Slackline vielleicht einen Meter breit. Als ich mich umschaue sehe ich ein Kissen, einen kleinen Spirituskocher und zwei oder drei Dosen. Anscheinend habe ich vor hier länger zu bleiben. Doch wie kann das sein? Wieso ist die Slackline so breit? Wieso diese Dinge? Im nächsten Moment schaue ich wieder aus der Adlerperspektive nach unten und bekomme eine Antwort. Nicht die Slackline wurde breiter, sondern ich bin geschrumpft. Ich bin viel kleiner, als zu dem Zeitpunkt, an dem ich loslief.
Mein Leben fließt zwischen so vielen Möglichkeiten. Zu manchen Zeiten habe ich das Gefühl Kontrolle darüber zu haben. Am Steuer zu stehen, Einfluß zu nehmen, mein Leben in der Hand zu haben. Gerade ist das nicht so. Ich habe keinen Einfluß, was geschieht geschieht. Ich sehe nicht wo ich herkomme und wo ich hin will. Unter mir der Abgrund. Die Situation ist wie sie ist und ich gebe mich ihr hin. Tue ich das? Kaum kommt ein Gedanke, folge ich ihm wie der Vogel dem Wind, lasse mich von ihm forttragen an einen Ort, der weniger schwierig, weniger belastend zu sein scheint. Träume! Alles Träume! Tatsächlich stehe ich über dem Abgrund, demütig, unwissend.
Dana ist schwer krank. Ich weiß nicht, ob sie geht oder bleibt. Wahrscheinlich weiß sie es auch nicht. Dieses Nicht-Wissen ist der schmale Grad der Realität. Er tut weh, ist unbestechlich, klar, kalt, hart. Er ist wie er ist. Es gibt keine Möglichkeit ihm zu entfliehen. Jede Flucht kann nur in einem Traum enden. Einem Traum, der die schwer kranke Hündin nicht berücksichtigt. Natürlich wünsche ich mir, dass ihr Körper heilt. Oder, dass das Sterben schnell geht. Sie und mich entlastet. Wünsche! Eine andere Art zu träumen! Mein Träumen führt mich von ihr weg. Von ihrer Realität.
- [ ] In der Quantenmechanik werden die Eigenschaften eines Objekts durch mathematische Objekte namens Wellenfunktionen dargestellt. Die Unschärferelation besagt, dass, selbst wenn man alle Komponenten der Wellenfunktion eines Partikels hat, man trotzdem nicht den genauen Standort und den Impuls definieren kann. Die Position und der Impuls eines Objekts sind nicht bestimmt, bis es wahrgenommen wird (dadurch wird der Beobachter Teil des Systems). Carl J. Pratt
Die Realität liegt im Unbestimmten. Blicke ich von meinem Platz auf der Slackline nach rechts oder links, sehe ich nur undurchdringlichen Nebel. Alles jenseits unserer Realität im Hier und Jetzt liegt im Nebel des Nicht-Wissens. Wir versuchen Einfluß zu nehmen, doch Position und Impuls des Objekts sind nicht bestimmt. Wir wissen nicht, wohin die Reise geht. Und genau aus diesem Grund bleibe ich an meinem Platz auf der Slackline, über dem Abgrund, im Nebel. An Dana’s Seite.