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Moe

poem

The ultimate touchstone of friendship is not improvement, neither of the other nor of the self: the ultimate touchstone is witness, the privilege of having been seen by someone and the equal privilege of being granted the sight of the essence of another, to have walked with them and to have believed in them, and sometimes just to have accompanied them for however brief a span, on a journey impossible to accomplish alone.

– David Whyte

Trauma und transgenerationale Übertragung

Der Rücken meiner Mutter


Meine Mutter hatte einen breiten Rücken. Er konnte viel tragen und bürdete sich viel auf. Ich kann mich gut an ihren Rücken erinnern. Er war stark und etwas gebeugt.
Ich habe keine Erinnerung an geöffnete Arme und einen einladenden Blick. Es war ihr Rückzug. In ihre Vergangenheit, in sich. Abgeschlossen und nicht erreichbar. Für mich als Kind war es hoch bedrohlich. Sie war einfach nicht da. Absorbiert von einer Zeit, in die ich ihr nicht folgen konnte.
Kinder wissen sich geliebt, wenn Erwachsene sich ihnen zuwenden. Sie sehen, in ihrem So-Sein und ihrem Potential. Der Rückzug des Erwachsenen, das Abwenden vom Kind, ohne ihm in Liebe eine Erklärung zu geben und es mitentscheiden zu lassen, wie der nächste gemeinsame Schritt aussieht, lassen in ihm Hilflosigkeit aufsteigen. Kleine Menschen machen immer zuerst sich verantwortlich für die Handlungen ihrer Erwachsenen. Wendet der Erwachsene sich ab, liegt es an ihnen. Etwas in ihnen kann nicht in Ordnung sein. Sie wissen nichts von den Verletzungen der Großen und den Strategien, die sie darum gebaut haben. Und oft wissen die Großen es selbst nicht.
Wie auch immer. Es ist an der Zeit, dass wir aufhören Kinder als unfertige Mangelwesen wahrzunehmen. Kinder bringen alles mit, was sie brauchen, um ein erfülltes und glückliches Leben zu führen, gelingende Beziehungen aufzubauen, sich in soziale Kontexte zu integrieren und liebevoll mit sich und der Welt zu leben. Dazu brauchen sie unseren Schutz und unsere Begleitung in der Gegenwart. Was sie nicht brauchen sind die Strukturen, die wir uns aufgebaut haben, um Schmerz, Verzweiflung, Hilflosigkeit und all die Ängste unserer Kindheit nicht mehr zu fühlen. Es ist an der Zeit, dass wir aufhören sie damit zu füttern. Unsere Überlebensstrategien sind letztlich nur Konserven. Fertigfutter. Ohne Gehalt, ohne Nährwert.
Mutter’s Rücken hat mich als Kind erstarren lassen. Und dieses Kind lebt in der Großen weiter. In manchen Situationen, in denen es sich ausgeliefert fühlte, hat es die Erstarrung in mir ausgelöst. Es mag sein, dass dies in der Zukunft wieder geschieht. Doch jetzt kann ich es einordnen. Damit ist der wichtigste Schritt getan, um auch mit Situationen, die ich als hilflos empfinde, gut leben zu können.

Trauma und transgenerationale Übertragung

„Hast du dich das schon einmal gefragt: Was wäre in deinem Leben anders gelaufen, wenn deine Urgroßeltern keinen Krieg erlebt hätten, wenn deine Großeltern nicht hätten hungern müssen oder nicht dazu gezwungen worden wären, ihr Heimatland zu verlassen? Wenn niemand viel zu früh einen geliebten Menschen hätte verlieren müssen, wenn Kinder ohne Gewalt und Missbrauch aufgewachsen wären? Wenn es in deiner Ahnengeschichte lauter glückliche und zufriedene Menschen gegeben hätte – wärst du der Mensch, der du heute bist?
Wer wärst du wohl, wenn deine Eltern dich nicht gebraucht hätten, als Trost, als Lebenssinn, als Partnerersatz, als Hoffnungsträgerin für eine bessere Zukunft, als Möglichkeit der Wiedergutmachung, als Sündenbock oder als Bestätigung dafür, gute Eltern zu sein? Wer wärst du, wenn du hättest sein dürfen, wer du bist? Ein erwünschtes Kind, um deiner selbst willen geliebt und geachtet, angenommen mit allem, was zu dir gehört. Vielleicht wärst du dann einfach ein glücklicher Mensch, der sich so annehmen kann, wie er ist, mit allen Stärken und Schwächen; jemand, der seine Talente kennt, diese mit Leidenschaft lebt und der seinen Platz in der Welt gefunden hat.“

Sabine Lück

Mythen und Märchen

Und so entstand …

Im Hinduismus gibt es den Mythos von Shiva, Parvati und Kama. Shiva ist einer der höchsten hinduistischen Götter. Er verkörpert Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung. Kama ist der Gott der Liebe und der Erotik.

Es wird gesagt, dass sich Shiva nach dem Tod seiner Frau Sati voll Trauer auf einen Berg zurückzog, um zu meditieren. Seine Meditation war so tief, dass sie Äonen dauerte.
In dieser Zeit nun hatte ein Dämon großen Einfluß genommen und begann die Welt nach seinem Bild umzuformen und nur Shiva konnte ihn stoppen. Zur gleichen Zeit lebte auch Parvati, Sati’s Wiedergeburt. Täglich ging sie zu Lord Shiva, um ihn mit ihren Tapas zu ehren, in der Hoffnung, dass er aus der Meditation auftauchen und erkennen würde, dass die Welt ihn braucht. Ihre Liebe zu ihm war so tief, dass sie ihre Tapas mehrmals täglich verrichtete.

Seine Anwesenheit in der Welt war so nötig, dass auch die anderen Götter überlegten, was zu tun sei, damit er zurückkehrte. Sie sahen Parvati’s Liebe und entwickelten den Plan, dass Kama einen Liebespfeil auf Shiva abschießen solle, damit dieser aus der Meditation auftauchen, seine Liebe zu Parvati erkennen und den Dämonen bekämpfen würde.
So gingen sie zu dem in tiefer Meditation versunkenen Shiva und Kama schoß einen seiner Pfeile auf ihn. Er traf auch und kurz erwachte Shiva. Er sah Parvati und spürte seine Liebe zu ihr. Dann sah er Kama und sofort erkannte er was geschehen war. Voller Wut öffnete er sein drittes Auge und verbrannte mit seinem feurigen Blick Kama.
Die Götter waren entsetzt! Ohne den Gott Kama wäre die Welt ohne Liebe! Sie flehten Shiva an, Kama wieder zum Leben zu erwecken. Da Shiva’s Zorn langsam verrauchte, erklärte er sich einverstanden, den Gott der Liebe und Erotik aus der verbrannten Asche wieder zu erschaffen. So nahm er die Asche, formte einen neuen Kama daraus und hauchte ihm Leben ein.

Damit kam die pervertierte Erotik in die Welt. In dem was Kama jetzt verkörperte, war Wut und Zerstörung. Seither leben Pornografie, sexueller Sadismus, sexueller Masoschismus und alle weiteren Begierden, die aus pervertierter Erotik entstehen konnten.

Mythen und Märchen

Waldfrau

„Früher lebte ich im Wald. Alleine und abseits der Menschen. Der Wald, die Tiere, die Pflanzen waren Freunde. Vertraute. Verbundene. Sie und ich waren die Erde.
Wir spielten miteinander, wir rannten und schwammen. Ja, es gab Schmerz und Leid, doch das gehörte zum Leben.
Irgendwann kamen sie. Ich wusste schon lange, dass der Zeitpunkt kommen würde. Immer wieder waren dunkle Energien sichtbar. Gedanken und Gefühle, die von ihnen zu mir floßen. So war es. Einfach ein weiteres ES IST. Ich wusste, dass ich es ertragen würde, wie der Baum den Blitz erträgt. Ich meinte, ich sei stärker.

Es war furchtbar. Sie holten mich, ihre Gesichter waren Fratzen, aus denen die Wut quoll. Sie trugen den Tod in den Augen. Ihre Körper verkrampft, verhärtet. Ich spürte die Angst dahinter. Die Sehnsucht nach Verbundenheit, nach der Einheit. Sie war ihnen genommen worden und lebte doch so stark und tief in ihnen. Ich konnte ihr Pulsieren spüren. Ihre Wut war fehlgeleitete Energie aus der Tiefe der Quelle. Letztlich ist alles Liebe. Sie waren nie geliebt worden. Also liebten sie sich selbst nicht. und konnten niemanden lieben. Es waren so gequälte Wesen. Und weil sie so gequält waren, mussten sie andere quälen. Die unbewusste Wut auf ihre Peiniger floß zu allen, die anscheinend das hatten, was sie so schmerzlich vermissten: Liebe, Verbindung, Mitgefühl.

Ich ging mit ihnen. Jeder Schritt schmerzte in dem Wissen, was gleich geschehen würde. Sie würden sich vor Mutter Erde versündigen. Sie würden mich töten und damit das grundlegendste Gesetz verletzen. Wir dürfen einander nicht töten. Wir sind hier, um als Hirten aufeinander und auf alle Wesen der Erde zu achten. Wir sind Mutter Erdes Ausdruck des Mitgefühls. Wir sind ihr Sinn für Selbstreflexion. Wir sind hier, um Sonnenuntergänge zu bestaunen, uns am Duft von Blüten zu erfreuen, im Meer zu schwimmen und barfuß im Sand zu laufen. Wir sind hier, um mit unseren Sinnen Gaia’s Schönheit zu ehren, erkennend, dass auch wir Gaia sind, dass wir reine Schönheit sind, die in Schönheit lebt.

Sie nahmen mich mit und sie taten, was sie tun mussten. Da sie zur Liebe keinen Zugang mehr hatten, lebten sie ihre Perversion. Statt Mitschöpfer auf dieser Erde zu sein, zerstörten sie. Ich nahm ihre Angst in mich auf. Ihre Angst ohne Liebe leben zu müssen. Das einzige verloren zu haben, was die Quelle unseres Seins ist. Ihre Angst wurde zu meiner Angst vor ihrer Wut. Nicht die gesunde Wut, mit der wir uns gut in die Welt bringen, sondern die Wut, die entsteht, wenn Liebe pervertiert wird.“

Mythen und Märchen

Entscheidung

Die alte Frau sah ihr tief in die Augen. Dann wandte sie den Blick ab und begann zu sprechen:
„Nicht immer sind es deine Wunden. Manches Mal kommen sie aus der Tiefe der Zeit. Sie wurden bei deinen Ahnen geboren, als es nicht Liebe war, die die Kinder nährte, sondern Schmerz und Angst. Sie entstanden im Kreiseln eines Lebens, um Krieg, Überleben und Verletzungen des Körpers und der Seele. Die Wunden waren die Folge von Kindheiten, denen die Liebe fehlte und Elternschaft, die ihre Wunden noch mit sich trug. Sie entstanden aus Unachtsamkeit und Fehlinformation, aus Mangel an Bewusstheit und Lebensfeindlichkeit.
Doch auch wenn sie aus der Ferne zu dir kamen, heute liegt es an dir. Heilung beginnt mit der Entscheidung hinzuschauen. Erst wenn du wach und bewusst hinterfragst, zeigt sich der nächste Schritt. Den alten Gefühlen der Schuld und Scham nicht mehr zu glauben und Verantwortung für dein Leben, genauso wie es heute ist, zu übernehmen, verbindet dich in der Tiefe mit deiner Kraft und Stärke. Steh auf und sieh hin. Höre die Stimmen deiner Ahnen, die noch immer durch dich sprechen. Und dann entscheide dich! Ihre Wunden sind in dir. Willst du ihnen weiter in deinem Leben Raum geben? Oder wirst du dich der Angst, die von ihnen ausgeht stellen? Dann werden hinter den Fratzen der Dämonen die ungeliebten Kinder deiner Vergangenheit auftauchen und dein mitfühlender Blick wird ihnen ihre Würde und ihren Platz zurückgeben. Triff deine Entscheidung.“

Gefühle

Angst ist keine Mauer. Sie ist ein Tor.

Vielleicht stehst du gerade davor.

Dein Herz pocht. Deine Kehle ist eng.

Und alles in dir flüstert: „Geh nicht weiter.“

Doch was wäre, wenn du wüsstest,

dass die Angst nicht gekommen ist, um dich zu brechen –

sondern um dich zu rufen?

Sie steht an der Schwelle.

Nicht als Dämon, sondern als Hüterin.

Sie fragt dich nicht: „Bist du stark genug?“

Sie fragt: „Bist du bereit, dich zu erinnern?“

Angst erscheint oft dort,

wo deine Seele wächst,

wo alte Häute sterben

und neue Wahrheiten geboren werden.

Wenn du ihr zuhörst, ohne zu fliehen,

öffnet sie Tore, die lange verschlossen waren.

Wenn du sie umarmst, statt gegen sie zu kämpfen,

führt sie dich heim –

zu deiner Essenz, zu deiner Wahrheit,

zu deinem uralten Wissen.

Du musst sie nicht besiegen.

Du musst ihr nur die Hand reichen.

Denn hinter der Angst

wartet nicht der Abgrund –

sondern deine Tiefe.

Autor unbekannt

Wir alle sind Natur

Landwirtschaft …


„… man geht davon aus, dass es „Experten“ mit „objektivem“ Wissen gäbe, die von anderen Menschen getrennt und ihnen überlegen seinen: den gewöhnlichen Männern und Frauen, Bauern, Arbeitern und Experten anderer Wissenstraditionen, wie etwa Ayurveda und Agrarökologie. Diese Separieren ist eine „Wissensapartheid“.
Das mechanistische Denken ist auch ein militarisiertes Denken. Es gründet sich auf Gewalt und führt zu Gewalt. Es ist seiner Natur nach gewalttätig, weil es die Natur für tot erklärt; es ist dem Wissen gegenüber gewalttätig, weil es unsere Fähigkeit zerstört, als Teil der Natur zu denken und zu handeln und gewaltfreie Mitschöpfer zu sein; es ist ökologisch gewalttätig, weil es durch seine Unwissenheit Prozesse stört, die das Leben von Organismen, Ökosystemen und der Erde selbst aufrechterhalten; es ist sozial gewalttätig, weil es blind ist für das von Bäuerinnen und Bauern und indigenen Kulturen verkörperte Wissen und es ächtet, obwohl die Welt es heute so dringend braucht, um den Planeten und die menschliche Gesellschaft zu heilen.
Das mechanistische Denken ist ein privatisierendes Denken. Es fördert die Einhegung der Gemeingüter der Natur, der sozialen Gemeingüter und des Gemeinguts unseres Wissens ebenso wie die Biopiraterie (die Nutzung bzw. Patentierung bisher frei verfügbarer biologischer Substanzen). Während es sich traditionelles Wissen aneignet, privatisiert und patentiert, errichtet das mechanische Denken eine künstliche Mauer, eine „Wertschöpfungsgrenze“. Traditionelles Wissen wird „Innovation“ und „Erfindung“ genannt und wird durch die Patentierung zu Privateigentum.“

Vandana Shiva

poem

Hades und Euklid

I
Als Euklid den Hades vermessen wollte
stellte er fest, dass es ihm an Tiefe und Höhe fehlte.
Dämonen, flacher als Felsen
wüteten auf der Ebene des Todes,
rannten mit echolosem Hundegebell
entlang der Linien von Feuer und Eis,
entlang der gezeichneten Linien des Hades.

Entlang der Linien, die zerbrachen
aber als Linien zurückkamen
ging eine Dämonenschar nach der anderen in die Breite, nacheinander und parallel durch den Hades.

Es gab keine Wellen, keine Höhen, keine Tiefen, keine Täler.
Nur Linien, parallele Verläufe, schräge Winkel.
Die Dämonen bewegten sich wie elliptische Platten;
bekleideten ein endloses Feld wie mit wandernden Drachenschuppen im Hades.

Auf eingeebneten Friedhöfen, die das Vergessen mit seiner Ebenheit verwüstet hatte
krochen Schlangen – selbst nur gröbere Linien:
eilten, krochen, gestikulierten
entlang laufender Linien.

Ein tosendes Grasfeuer in rasendem Flug
bewegte sich über den Boden wie ein Rasiermesser aus Feuer.
Es reiste auf bösen Prärien, auf bösen Steppen, flachen bösen Leeren.
hin und her, immer wieder neu entfacht
durch die Hitze der flachen Ebenen des Hades.

Harry Martinson (erster von drei Teilen des Gedichts)

Robert Bly fragt nach der Lektüre des Gedichts von Martinson, in „Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung erwachsen zu werden.“, ob wir inzwischen an einem solch flachen Ort leben. Und dort wo wir flach sind, ein flaches Verhalten zeigen? Ich frage mich, was das für mich bedeuten könnte. Was bedeutet es flach zu sein? Keine Tiefe zu haben, keine Höhe?

Als erstes fällt mir ein, etwas einfach zu übernehmen ohne es zu durchdringen, zu durchwirken. Mit meinem Blick an der Oberfläche zu bleiben. Erst wenn ich tief eintauche sehe ich, ob ein Mensch, eine Situation, ein Verhalten mich berührt. Ob ich ihn berühre. Ich kann etwas nur tief durchdringen, wenn ich es tief in mich hinein lasse. Dadurch entsteht Dreidimensionaliltät in meinem Sein. Das erreiche ich allerdings nur mit Zeit. Die vierte Dimension gibt mir die Möglichkeit genau hinzuspüren, zu prüfen, zu ertasten um was es sich handelt. Die Zeit, die ich mir gebe ist der Anker, der mich in die Tiefe gehen lässt, aus der Höhe entsteht.

Übernehme ich nur die Sichtweise anderer ohne zu prüfen, was für mich gilt, gebe es eventuell noch so weiter, werde ich flach. Ich verliere die Zeit, gebe meine Tiefe auf, damit verschwindet automatisch meine Höhe. Was bleibt ist die Zweidimensionalität von Länge und Breite. Wie Martinsons Dämonen krieche ich dann als Drachenschuppe über die Oberfläche des Hades und werde irgendwann selbst zum flachen Dämon in der Hölle. Und dann kommt das Vergessen. Meines Ursprungs, meiner Lebendigkeit, meiner Kinder. In der flachen Welt des Hades gibt es keine Kreise, keine Bögen. Alles was organisch gewunden ist, ist verschwunden. Es bleibt die Kälte von Linien, Kanten und Winkeln. Die Fläche ebnet -wie in dem Gedicht- die Gräber ein, was zu Vergessen führt. So wie Vergangenheit Tiefe ist, die in die Zukunft wirkt, ist das Grab Tiefe und Höhe, die durch das Glätten zur ebenen Fläche des Vergessens ohne Zukunft wird.

Ebenso kann ich tief in mein Leben eintauchen und die Schätze hinter den Schmerzen und Ängsten entdecken. Meine Tiefe gibt mir Kontur, Charakter, zeigt meine Ecken und Kanten, meine weichen, zarten und groben Teile. Doch es braucht Mut in einer Gesellschaft der Angst, der geschliffenen Konturen sich mit dem zu zeigen, was sich hinter den Masken der Persönlichkeit befindet. Je öfter ich etwas aus der Tiefe nach oben hole, um so klarer werde ich. In mir und für andere. Ich gewinne mit der Tiefe zeitgleich und in gleichem Ausmaß, an Höhe und Sichtbarkeit. Und ich werde lebendig. Mit Schleifen, Spiralen, Krümmungen organischen Gebilden in Fläche, Höhe, Tiefe und der Zeit.

Spirit

Rituale

Rituale sind Hilfen, um die Alltagswelt zu verlassen und in einem geschützten Raum Transformation zu bewirken oder sich zu transformieren.
Im Vordergrund steht der Schutz des Raumes für den Einzelnen. Manchmal wird auch das Ritual als solches geschützt. Dieser Schutz ist notwendig, da die angestrebte Transformation eine Öffnung braucht – There is a crack in everything. That’s where the light gets in! Leonard Cohen.


Damit jeder einzelne seinen Weg finden kann, braucht es Sicherheit. Sicherheit entsteht durch Wissen. So sollte für alle klar sein, wieviel Anteil an der festgelegten oder geschätzen Zeit für das Ritual vorgesehen ist und wieviel – oder ob überhaupt – für sozialen Austausch und Miteinander eingeplant wurde. Jeder sollte wissen wie das Treffen ablaufen wird, was auf ihn zukommt, vielleicht nicht detailliert inhaltlich, aber doch die Struktur. Setzen sich die Teilnehmer neu zusammen, ist es notwendig alles durchzusprechen und den Neuen zu helfen sich in den Ablauf zu integrieren.
Außerdem sollte klar sein, ob man etwas mitbringen soll oder nicht, wann gegessen wird (normalerweise nach dem Ritual. Essen versetzt in einen eher alltäglichen Zustand, da die Verdauung anläuft. Daher werden bei großen Ritualen – Schwitzhütte, Sonnentanz – vorher oft Fastenzeiten eingehalten, die es erleichtern einen heiligen Raum zu schaffen).

Bevor das Ritual beginnt, sollte es einen Übergangsbereich geben, der es den Teilnehmern erlaubt anzukommen, sich zu begrüßen und den Mantel der Alltagswelt abzulegen. Auf keinen Fall sollte getratscht werden, da Gossip jegliches Tor in nicht alltägliche Welten schließt. Über andere zu sprechen führt von uns weg. Es ist eine traumaassoziierte Überlebensstrategie, die dem auszuweichen will, was wir in uns an Schmerz und Angst finden könnten. Findet das Ritual an einem bestimmten Platz oder in einem bestimmten Raum statt, wird nicht mehr gesprochen, sobald man den Raum, den Platz betreten hat. Stattdessen konzentriert sich jeder auf sich, betritt seine innere Welt und schaut wie er heute da ist.

Die Lakota, an deren reichem rituellem Schatz ich teilhaben durfte, führen unterschiedliche kleine Rituale durch, um die Alltagswelt zu verlassen und in die übernatürliche Welt der Transformation einzutauchen.
Häufig ist es der erste Schritt für einen gewissen Zeitraum an dem Tag des Rituals zu fasten. Dann das Abräuchern mit Salbei oder Beifuß. Dadurch werden die Spirits vertrieben, die den heiligen Raum des Rituals nicht betreten sollen. Also die Alltäglichkeiten, mit denen wir außerhalb des Heiligen Raums beschäftigt sind, wie Gedanken über die Arbeit, Urteile über andere Menschen und Situationen, bestehende Konflikte, etc. All das hat seinen Platz im alltäglichen, nicht im heiligen Raum. Allerdings verändert alles, was im heiligen Raum geschieht unsere Sicht auf den Alltag und unser Leben.
Danach kann eine Schwelle überschritten werden. Jeder geht bewusst in den heiligen Raum. Nun gibt es kein Zurück mehr. Die Transformation kann beginnen.
Bei großen Ritualen, wie der Schwitzhütte, wird noch eine tiefere innere Ausrichtung verlangt. Die Schwitzhütte kann man nur betreten, wenn man bereit ist in die Verbindung mit allen und allem zu gehen. Dazu muss man in den Vierfüßlerstand, sprich symbolisch anerkennen, dass wir zum Reich der Tiere gehören und damit in die Schöpfung. Wir stehen nicht über ihr.
Nun sind wir im heiligen Raum! Auch wenn dieser Raum einerseits ein Raum an einem Ort ist, ist er doch vor allem ein Raum jenseits aller Orte. Wir haben eine andere Dimension betreten. Hier gelten nicht die gleichen physikalischen Bedingungen wie dort, wo wir herkamen. Sind wir erst einmal hier gilt folgendes:
Wir können nicht mehr zurück. Der Weg führt von nun an nur noch mitten durch das Ritual.
Wir haben die Alltagswelt hinter uns gelassen. Daher gilt, es wird nicht gesprochen. Wird etwas gesagt, hat es sofort Auswirkungen auf das Ritual und somit auch auf uns. Daher spricht erstmal nur der Ritualleiter. Dieser kann das Wort an einzelne oder alle, in einer festgelegten oder sich ergebenden Reihenfolge, erteilen. So kann zum Beispiel die Aufforderung „Lasst uns darüber sprechen“, den Raum für ein gemeinsames Gespräch öffnen.
Sind wir in der Schwitzhütte, wird wieder geräuchert. dieses Mal, um helfende Spirits zu rufen. Dazu wird zum Beispiel Süßgras genutzt. Auf unserer Ebene bedeutet dies, dass wir uns nun noch bewusster Richtung Transformation ausrichten. Wir bitten darum, dass unser Wunsch nach Transformation hier, in diesem Raum, gehört und erfüllt wird. Deshalb akzeptieren wir das Ritual.

Diese Unterwerfung fordert uns heraus. Für unser Ego mag es anfangs schwierig sei, doch die Vorteile überwiegen für die meisten, bedeutet es doch auch, die Verantwortung für die Anforderungen der Welt, für den Zeitraum des Rituals abgeben zu können. Der Übergang in die heilige Dimension entlastet uns von den Pflichten unseres erwachsenen Lebens und entführt uns in die Welt des heiligen Kindes, das spielend Zugänge zu Pflanzen, Tieren, Feen, Trollen, Hexen und magischen Momenten findet. Wir erkennen, was wir auf unserem Weg ins Erwachsenenleben geopfert haben, wo wir unsere Ganzheitlichkeit verlassen haben und was wir nun wieder integrieren können. Das heilige Kind in uns (Chuen im Mayakalender. Die Mayas vollführen kein Ritual ohne diesen Nagual der für Kind, Neubeginn, Kreativität und Schöpferkraft steht) ist der Zugang zur anderen Dimension. Dieses Portal können wir nicht außerhalb von uns finden. Es befindet sich in uns. Die Hindus kennen 72 000 Energiekanäle, in denen unsere Lebensenergie fließt. Der Zugang zu anderen Dimensionen könnte sich aber auch in jeder unserer Zellen befinden …

Ein Ritual wird vielleicht in der umgekehrten Reihenfolge beendet, in der es begonnen hat. Oder es werden Techniken angewandt, die auch schon am Beginn des Rituals standen, wie tiefes Atmen, eine leichte Meditation, wurde mit einem Tanz gegen den Uhrzeigersinn begonnen, beendet ein Tanz im Uhrzeigersinn. Wurde eine Schwelle überschritten, sollte auch am Ende wieder eine Schwelle überschritten werden. Und/oder es wird noch einmal jeder einzelne mit Rauch gereinigt.
Das Ende des Rituals ist so wichtig wie sein Einstieg. Es lässt uns wieder in unserem Alltag ankommen, führt uns zurück über die Brücke, öffnet das Portal, damit wir unsere normale Welt wieder betreten können. Dazu müssen wir die übernatürliche Welt zurücklassen und uns wieder in unseren Alltag einfinden.
Einer meiner Aufstellungslehrer beendete jede Aufstellung mit einem symbolischen Glas Wasser, das jeder „trank“. Wasser ist per se eine Substanz, die die Welten verbindet, uns somit einen leichten Übergang gewährt. Meiner Erfahrung nach hilft es auch ganz ungemein, ein echtes Glas Wasser zu trinken. Wasser spült alles ab, was nicht mehr zählt. Und da wir innerlich unterwegs waren, ist eine innerliche Reinigung angemessen. Damit bekommt der Körper auch das Signal „alle wieder an Bord, der Alltag beginnt“.

Aho! Mitakuye Oyasin!