Ich - Du - Wir

„Man kann nun nicht behaupten, dass mein märkischer Nachbar über besonders ausgeprägte Fähigkeiten im Nichtstun verfügt. Im Gegenteil. Egal, wann ich ihn antreffe, er ist immer auf den Beinen. Er sammelt, säubert, verkauft Eier. Er gräbt, mulcht, lüftet Beete. Er pflanzt, schient, erntet Tomaten. Er hackt, trocknet, bunkert Rüben. Auch sonntags schneidet er für seine Hühner ein wenig Gras. Eine nach Westen ausgerichtete Bank am Grundstücksende, wie ich sie habe, über die verfügt sein wuselndes, wachsendes, gedeihendes Grundstück nicht. Er käme ohnehin kaum zum Sitzen darauf.

In der Statistik gilt mein Nachbar aber als arbeitslos. Das ist einigermaßen irrwitzig, wenn man sein Arbeitspensum betrachtet. Er gilt als arbeitslos, weil er, der Flugzeugingenieurswesen studiert hat, nicht als Flugzeugingenieur arbeitet. Was er stattdessen Tag für Tag leistet, bleibt den meisten verborgen. Um in der Statistik nicht als arbeitslos zu gelten, müsste er morgens mit dem Auto aufbrechen, tagsüber nicht zu sehen sein, abends im Supermarkt Gemüse erstehen und erst nach Einbruch der Dunkelheit mit vollgepackten Tüten im Dorf erscheinen. 

Mein Nachbar ist nicht nur fleißig, er ist auch sehr klug. Das kann man doch abkürzen, mag er sich gedacht haben. Warum sollte er ins Büro gehen, um Geld für Gemüse zu verdienen, das er selbst anbauen kann. Warum sollte er am Computer verkümmern, wenn er draußen viel glücklicher ist. Warum sollte er nicht bleiben, mag er sich gedacht haben, wo er frei und unabhängig und keinem Chef untergeben ist. Obwohl er ganz schlecht im Garnichtstun ist, wurde mir mein märkischer Nachbar zum Vorbild. Er hat nicht das Arbeiten an sich eingestellt, sondern die Umwege, die man mit der Arbeit meist einschlägt, einfach abgekürzt. Er arbeitet nicht wenig, aber er wird seine Arbeit nicht bereuen. Ein größeres Maß an Unabhängigkeit, Freiheit und Autarkie ist nicht zu erlangen.

Wenn er stattdessen einem Supermarkt nach Büroschluss Tomaten und Gurken abkaufte, müsste er einen hohen Preis dafür zahlen, nicht nur an der Supermarktkasse. Straßen müssten gebahnt werden für diese Tomaten und Gurken, Lastwagen darauf fahren, die Teerlungen der Straßenarbeiter kuriert werden, was allenfalls dem Bruttoinlandsprodukt zugute käme. Die Dorfbewohner sollten sich bei meinem Nachbarn bedanken. Frühmorgens weckt er niemanden mit einem Automotor. Er verbraucht kaum Plastik. Seine Arbeit verursacht keine Folgeschäden. Er zerstört nichts. Und er ist immer gut gelaunt. Wahrscheinlich ist mein Nachbar einfach zu fortschrittlich. Er geht nicht arbeiten, sondern er arbeitet, er gilt in der Statistik als arbeitslos, bezieht aber kein Geld vom Staat, er passt einfach nicht ins System. Und das ist auch gut so.“

Das Beste, was wir tun können, ist nichts, Björn Kern

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