Ich - Du - Wir

Spiegelung ist Identität


„Forschungen der US-Wissenschaftler Andrew Meltzoff und Keith Moore, Mitte der 1990er Jahre zeigten:

Kinder (Neugeborene) wissen, dass die Empfindungen, die sie innen haben, nach außen ein Körper sind, nicht anders als jener (der Körper der Mutter) vor ihnen. Schon Neugeborene erleben ihre Mutter somit als ein Gegenüber. Säuglinge wissen offenbar auch, dass der mütterliche Körper mit genau der gleichen Innerlichkeit begabt ist, die sie selbst fühlen. Neugeborene verstehen vielleicht sonst nichts, aber eine Sache wissen sie mit einer Klarheit, um die wir sie beneiden können: Dass sie Lebewesen sind, deren Gefühle eine mit den Fingern betastbare, mit den Blicken wahrzunehmende sichtbare Außenseite haben. Oder, noch allgemeiner ausgedrückt: Sie wissen, dass sie Materie sind, die zu Gefühlen fähig ist.

(…)

Für den Bewusstseinsforscher und Philosophen Evan Thompson von der Universität Toronto zeigen diese Experimente: “Für Neugeborene ist die Erfahrung, dass sie ein Ich haben, an die Gegenwart von anderen Menschen gekoppelt.“ Bewusstsein forme sich wie in einem Pingpongspiel aus der Kommunikation zwischen dem eigenen Selbst und dem der anderen Menschen. Bewusstsein ist darum immer auf die Präsenz eines Gegenübers angewiesen. Es ist weniger subjektiv, als intersubjektiv, wie Thompson glaubt. Der Schlüssel für eine gesunde Entwicklung läge damit in der Empathie: In der Möglichkeit, eigene Gefühle zu erfahren, indem man sie an anderen erkennt, von denen man weiß, dass sie ebenfalls fühlen. Werden zu können hieße, geliebt werden zu dürfen – als eine biologische Notwendigkeit.

Darum – nicht aufgrund einer vorgezeichneten symbiotischen Einheit mit der Mutter – bleibt der werdende Mensch sein Leben lang auf eine Form von Symbiose angewiesen. Nur indem ich mich in bestehenden Strukturen widerspiegele, gewinne ich für mich selbst Struktur. Das Neugeborene erlebt sich getrennt, und zugleich wird es nur im Wechselspiel mit anderen zu einem Selbst – indem es die Trennung überwindet. Der Säugling muss sich im Gesicht der Mutter (oder des Vaters oder einer anderen zentralen Bezugsperson) spiegeln, um sich selbst erkennen zu können. Ihr Blick macht ihn zu dem, der er sein wird – und je nachdem wie empathisch, einfühlsam und liebevoll der Blick ausfällt, wird der neue Mensch ein anderer. Hirn-Experimente mit Affen zeigten, dass das Ausmaß der elterlichen Fürsorge den anatomischen Aufbau des Denkorgans in entscheidender Weise beeinflusst. Gefühle, die ein Kind bis zu einem bestimmten Lebensalter nicht erlebt, weil sie ihm von seinem Gegenüber nicht entgegengebracht werden, löschen sich aus der Architektur des Gehirns und sind dann für ein ganzes Leben unheilbar verloren.“

Andreas Weber, “Alles fühlt

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