Schweißgebadet erwacht … voller Angst … ich habe es gestern verkackt … es dockt an meine frühe Grundschulzeit an … damals war ich so oft in dem Gefühl nicht richtig zu sein. Nicht richtig in der Welt. Ein unbestimmtes Gefühl hier vollkommen falsch zu sein, nicht hierher zu gehören. Heute weiß ich, dass viele früh traumatisierte Menschen dieses Gefühl des „Falsch-Seins“ kennen. Sie haben mich in Stufen gebrochen. Zuerst der 4-Stunden-Rhythmus im Hebammenhaus, direkt nach der Geburt. Nach jedem Stillen wieder weit weg von meiner Mutter in einem harten, unbeweglichen Bett, mit kratzigem an der Haut, wo ich doch eigentlich die Haut meiner Mutter spüren sollte. Meine Haut, die bis eben noch nicht wirklich vorhanden war. Die ein Teil des Kind-Mutter-Körpers, des Nichtgetrennten, der Einheit war … keine Grenze, keine Identität, nur ein gemeinsamer Atem, ein Puls, ein Herzschlag. Sie war ich, ich sie. Nun ist sie weg. Ich weine mir das Herz und die Seele aus dem Leib. Doch niemand kommt. Kein Erbarmen. Dann war ich still. Alle geben irgendwann auf. Heute wissen wir, dass Kinder schon im Mutterleib ein Bewusstsein für sich und ihre Umgebung haben. Ebenso Erinnerungen. Danach gefragt, können Vor- und Grundschulkinder von Erlebnissen vor ihrer Geburt, der Geburt selbst und aus der Zeit vor ihrer Sprachentwicklung berichten. Mit 4 Jahren musste ich erstmals zum Zahnarzt. Er war der sprichwörtliche Sadist. Kinder gab es in seiner Welt nicht. Er war grob. Tat mir weh. Verletzte mich im Mund. Mit seinen Fingern, seinen Instrumenten. Nach den Arztbesuchen hatte ich Risse in den Mundwinkeln, oft blutete mein Zahnfleisch. Ich wehrte mich. Auf meine kleine, kindlich Weise. Ich fing zu Hause an zu weinen, zu schreien. Ich schrie bis ich auf seinem Stuhl saß. Einmal biß ich ihn, als er mir weh tat, das machte es in der Folge nicht besser. Mit 6 Jahren war einer meiner Zähne vereitert. Er zog ihn. Trotzdem. Dann war ich krank. Sehr lange und ausführlich. Der Eiter war in mein Blut gelangt. Meine Leukozyten schossen ins Unermessliche. Sie hatten Angst, dass ich eine Leukämie entwickele. Ich war 6 Jahre, konnte nicht mehr zur Schule gehen. Die ersten zwei Jahre danach musste ich wöchentlich zum Arzt, mein Finger wurde angestochen, Blut in eine Röhre gesaugt und die Werte überprüft. Ich hatte Angst davor, habe es gehasst, gefürchtet. Doch das war nicht alles, was den Ärzten einfiel … Die Krankheit hatte mich Kraft gekostet. Ich war sehr schmal, bleich und durchscheinender als früher. Der eigentlich nette Hausarzt kam auf die vernichtende Idee mich „in die Kur zu schicken“. Heute kennt das niemand mehr. Es war eine in den 50er bis in die 80er Jahre praktizierte Methode. Kinder wurden alleine, ohne Eltern, mit der Bahn zu weit entlegenen Häusern geschickt. Dort waren sie dem Wohl und Wehe der Menschen, die dort arbeiteten ausgeliefert. Wer sich mit diesem dunklen und vielen unbekannten Teil unserer jüngeren Geschichte beschäftigen möchte, findet unter den Stichworten „Verschickungskinder“ oder „Kinderheime“ seit 2019 informative Seiten im Netz. Viele Kinder erlitten emotionale, körperliche und sexuelle Gewalt. In manchen Häusern wurden Medikamentenversuche durchgeführt. Sie wurden teilweise gefoltert (Ja. Gefoltert!), es wurde versucht sie bewusst und mit Absicht zu brechen. Es verwundert dann kaum noch, zu lesen, dass einige der Ärzte, die die Häuser führten, Berühmtheiten mit Nazi-Vergangenheit waren. Ich landete in Berchtesgaden. Im Unterschied zu anderen, kann ich mich gut an die Zeit erinnern. Es war schrecklich. Ich erlebte, wie ich und andere, um mich herum, körperlich und seelisch misshandelt wurden. Die „Kur“ dauerte sechs Wochen. Gegen Ende brachen die Röteln aus. Am vorletzten Tag traf es mich. Sie sagten mir, wenn ich am nächsten Tag nicht gesund sei, müsse ich weitere sechs Wochen bleiben. Es gäbe nur alle sechs Wochen einen Zug … Ich war am nächsten Tag gesund. Kaum zu Hause breiteten sich die roten Flecken wieder über meinen gesamten Körper aus. Und ja, ich war danach eine andere. Ich aß nicht mehr, was ich vorher gemocht hatte. Ich hatte das unbewusste Gefühl nicht in Ordnung zu sein. Nicht richtig zu sein. Mein Selbstbewusstsein hatte großen Schaden erlitten. Ich fühlte mich alleine. Verlassen. Es fiel mir schwer offen für mich einzustehen. Ich entwickelte soziale Ängste. “Autoritäten“ schreckten mich. Ein Teil von mir war in den Untergrund gegangen und es dauerte lange bis er ans Licht zurück fand. Und nun zeigt sich das alles nochmals. Was war dem vorausgegangen? Am Anfang war ein Arzttermin, der für mich sehr wichtig war. Wichtiger, als ich zu dem Zeitpunkt ermaß und bei dem ich verschiedenes falsch verstand. Dazu kam ein Telefonat mit einer Freundin, die davon sprach, dass gerade Ungeheiltes wieder an die Oberfläche kommt, sich nochmals zeigt, um dann zu gehen. Eigentlich ging es dabei um die alte deutsche Angst vor „dem Russen“, die jetzt bei Menschen, die den zweiten Weltkrieg erlebten, aber auch bei jüngeren, die transgenerational davon betroffen sind, wieder auftaucht. Zu diesen beiden Elementen gesellte sich ein Lied. „Nein, meine Söhne geb ich nicht“, von Reinhard Mey und Freunden. Es kam ganz unerwartet zu mir und ich hörte es wieder und wieder, während mir die Tränen übers Gesicht liefen. Die Stimmen der Männer und Frauen, die für ihre Kinder einstanden, sich als Eltern zwischen ihre Kinder und die Willkür von Staat und Behörden stellten, brachte etwas in mir in Fluss. In mehrere Richtungen. Hin zu meinem Sohn und tief in mein Inneres. Etwas wurde weich, löste sich auf, wollte und will gehen. In der Tiefe heilen. Einen Platz in meiner Erinnerung einnehmen, der ruhig, heilsam und haltend ist. Aber noch war es nicht so weit. Das Adjuvans fehlte noch. Das kam, als mein Arzt am späten Nachmittag anrief: Ich hatte den sehr wichtigen Termin verpasst und wusste in dem Moment nicht, ob ich einen weiteren bekommen könnte. Es fuhr mir in den Magen. Mir war übel und zum heulen zumute. So hatte ich mich schon sehr lange nicht mehr gefühlt. Dieser Schreck rauhte alle Verkrustungen auf, die noch über den alten traumatischen Erfahrungen lagen, öffnete sie, um die abschließende Heilung einzuleiten. Ja, da bin ich nun. Gebrochen und nun heil(end). Mit Erinnerungen, die ihren Platz gefunden haben im Kaleidoskop des Lebens. Die letzten Tage waren schrecklich schön. Da ist noch ein Rest Wehmut über die lange Zeit der Heilung. Aber auch ein Wissen, dass unsere Erfahrungen uns zu der machen, die wir sind. „There is a crack in everything“, wie Leonard Cohen sang. „That‘s how the light gets in“.
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