Die Kelten erkannten, dass die Gestalt jeder Seele einmalig ist und dass das spirituelle Gewand, das der eine Mensch trägt, niemals der Seele eines anderen passen kann. Interessanterweise bedeutet das lateinische Wort für „Offenbarung“, revelatio, wörtlich so viel wie „Wieder-Verschleierung“. Die Welt der Seele lässt sich nur flüchtig erblicken, wie durch einen Spalt in einem Schleier, der sich sofort wieder schließt. Es gibt keinen direkten, ständigen oder allgemeinen Zugang zum Göttlichen. Jedes Schicksal besitzt seine eigentümliche Kontur, seine eigene Linie, die ihre spezifische spirituelle Zugehörigkeit und Ausrichtung finden muss. Die Individualität ist der einzige Zugang zu unserem spirituellen Potenzial und zu dessen Erfüllung.
Wenn die spirituelle Suche zu leidenschaftlilch und verbissen betrieben wird, bleibt die Seele versteckt. Es ist der Seele nie bestimmt gewesen, vollkommen erschaut zu werden. Die Seele fühlt sich eher in einem Licht zu Hause, das auch den Schatten gastfreundlich aufnimmt. Von freundlicher Zutraulichkeit gegenüber der Dunkelheit, öffnet es sanft Höhlen in der Finsternis und verleitet die Vorstellungskraft dazu aktiv zu werden. Die Kerze gestattet es dem Dunkel, seine Geheimnisse zu wahren. In jeder Kerzenflamme finden sich ein Schatten und mehrere Farben. Kerzenlicht-Bewusstsein ist die respektvollste und angemessenste Form von Licht, unter dessen Führung wir uns der inneren Welt annähern können. Es versucht nicht, dem Geheimnis unsere qualvoll schattenlose Bewusstheit aufzuzwingen. Der Flüchtige, ahnende Blick ist genug. Die Kerzenlicht-Wahrnehmung naht sich dem Mysterium und der Autonomie der Seele mit der erforderlichen Rücksicht und Ehrfurcht. Eine Solche Wahrnehmung ist an der Schwelle daheim. Weder braucht sie, noch wünscht sie, in den geheiligten Bezirk einzudringen, in dem das Göttliche wohnt. Heutzutage verwenden wir die Sprache der Psychologie, um uns der Seele anzunähern. Die Psychologie ist eine wunderbare Wissenschaft. In vielerlei Hinsicht war sie ein Entdeckerin, die in heldenhaften Abenteuern die unbekannte innere Welt erforschte. In unserer Kultur der Unmittelbarkeit hat die Psychologie die Fruchtbarkeit des und die Ehrfurcht vor dem Mythos verbannt. Sie steht unter dem Druck des Neon-Bewusstseins, und ist damit außerstande, die Tiefe und Fülle der Welt der Seele zu erschließen oder zu bergen. Eine wichtige Einsicht, die wir der keltischen Mystik verdanken, ist die Erkenntnis, dass wir weniger danach streben sollten, unsere Seele offenzulegen oder ihr unsere schwache Hilfe anzubieten, als viel mehr unserer Seele zu gestatten, uns zu finden und für uns zu sorgen. Die keltische Mystik ist zärtlich zu den Sinnen und bar aller spirituellen Aggressivität. Die Geschichten, Gedichte und Gebete der Kelten sind Ausdrucksformen einer offensichtlich prä-logischen Sprache – eines Idioms der lyrischen ehrerbietigen Beobachtung. Oftmals erinnert diese Sprache an die Reinheit japanischer Haikus. Sie umgeht die knorrige Kompliziertheit narzisstischer selbstbezüglicher Rede und erschafft klare Wortgestalten, die die numinosen Tiefen der Natur und des Göttlichen ungehindert hindurchschimmern lassen. Die keltische Spiritualität erkennt die Weisheit und das sanfte LIcht, die unser Leben behüten und vertiefen können. Wenn unsere Seele erwacht, regt sich der schöpferische Drang unseres Schicksals.
John O´Donohue
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